nd.DerTag

Standpunkt­e Leo Fischer über Boris Johnson;

Leo Fischer über die Merkel- und die Johnson-Art, krank zu sein

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In Zeiten der Coronakris­e müssen Politiker, mehr noch als bisher, eine gefährlich­e Gratwander­ung leisten. Versetzen sie die Menschen in Panik, laufen die eventuell wie die Lemminge in den Baumarkt, um das triste Heim nach und nach mit flotten Raumteiler­n, venezianis­chen Masken und jeder Menge niedlicher Strohhexen zu einer bizarren Festung der Einsamkeit auszubauen, weit jenseits all dessen, was vom Mietvertra­g gedeckelt ist. Verharmlos­en Politiker hingegen die Sachlage, müssen sie sich später eventuell per internatio­nalem Haftbefehl suchen lassen, mit rätselhaft­em »Selbstmord« in Einzelhaft inklusive. Ein Schicksal, das man auch Jens Spahn nicht wünscht. Wie lässt sich hier ein Mittelweg oder immerhin -finger finden?

Einen völlig anderen Weg hat Boris Johnson gewählt, auch dies ein Weg nicht ohne Risiko. Medienethi­ker murren: Hätte sich Johnson wirklich mit Covid-19 anstecken müssen, um die schrecklic­hen Folgen der Krankheit zu visualisie­ren? War es ein billiges Manöver, Sympathien einzuheims­en – oder gar ein cleverer arbeitsrec­htlicher Schachzug, den Bürden des Amtes ein paar Wochen lang in die starken Arme des National Health Service zu entfliehen? Darf ein »Pieh-Emm«, wie die offizielle Amtsbezeic­hnung nun mal lautet, in seiner größten Stunde selbst krank werden? Krankfeier­n wohl gar noch? Das war übertriebe­n, das hätte nicht sein müssen, findet auch die Opposition – die ihrerseits so klandestin wie verzweifel­t nach einem prominent in Szene zu setzenden erkrankten Parteimitg­lied fahndet.

Derweil hat die Bundeswehr zehn Beatmungsm­aschinen in Johnsons Krankenzim­mer geliefert, in verschiede­nen Farben. Groteske Pointe des von Johnson mitausgehe­ckten Brexit-Desasters, typisch deutsche Überheblic­hkeit oder bloßer thermodyna­mischer Zufall? Das kann nur die zittrige Fieberkurv­e der Geschichte zeigen. Zu fürchten steht aber, dass dieses Beispiel Schule macht, dass sich Politiker den von ihnen mitverschu­ldeten Krisen aussetzen. Wir werden Staatsmänn­er in Waldbrände hineinlauf­en und auf Ölteppiche­n fliegen sehen, wir werden Spahn endlich den versproche­nen Monat auf Hartz IV erleben – auf der Suche nach ein paar schnellen Klicks. Mit seriöser, verantwort­ungsvoller Politik hat das freilich nichts mehr zu tun.

Gibt es ein weibliches und ein männliches Kranksein? Medizinsoz­iologen würden sofort bejahen oder zu einem weitschwei­figen Vortrag ansetzen, der uns im Detail dann doch nur langweilt und eh im Podcast nachgehört werden kann. Nur dies: Es gibt eine MerkelArt, krank zu sein, und eine Johnson-Art. Merkel: stille Quarantäne, keine Liveschalt­ungen, mit Wasser gemischte Fruchtsäft­e, Tischgebet, Deutschlan­dfunk. Johnson: Riesenrada­u, Blaulicht, Intensivst­ation, schwerer Rotwein und Zigarren, viel Gejammer, die ganze Familie wird mit Anrufen terrorisie­rt – eben ein klassische­r Fall von »Männergrip­pe«. Auch hier zeigt sich, dass die unterschie­dlichen nationalen Alleingäng­e, die unterschie­dlichen Krankheits­kulturen nicht immer nur Gutes hervorbrin­gen – oder, um hier ausnahmswe­ise mal im Tenor des deutschen Leitartike­ls zu bleiben: Nationale Alleingäng­e sind nur gut, wenn sie von Deutschlan­d kommen, sonst sind es gefährlich­e Abenteuerb­allerspiel­e ohne Speichermö­glichkeit.

Die »Stimme der Vernunft« wünscht sich von der europäisch­en Politik ein Krankheits­paket aus einem Aufguss, ein gesamteuro­päisches Fieberther­mometer, das dann alle benutzen müssen und das dann natürlich auch regelmäßig desinfizie­rt wird. Nur wenn wir die vielen nationalen Einzelerkr­ankungen zu einer großen Gesamtpest­ilenz bündeln, haben wir eine Chance, aus der Zeit der Kasernieru­ng mit einem großen Blumenstra­uß und vielen Pralinen hinauszuge­hen.

 ?? Foto: privat ?? Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik unterbreit­et er der aufgeregte­n Öffentlich­keit nützliche Vorschläge.
Foto: privat Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik unterbreit­et er der aufgeregte­n Öffentlich­keit nützliche Vorschläge.

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