nd.DerTag

Extremismu­s des Elends

Darstellun­gen von Armut in populären Medien.

- Den Von Ulrike Wagener

Wie Unterschic­hten nicht dargestell­t werden sollten – darum ging es bei einer Debatte auf einem SPD-Parteitag im Jahr 1896, deren Analyse von Rebekka Habermas auch zu aktuellen Fragen einiges Erhellende­s beizutrage­n hat. Sie arbeitet heraus, dass es den Anwesenden dabei keineswegs darum ging, zu kritisiere­n, dass die Unterschic­hten – als deren Anwalt sie sich sahen – zumeist im Kontext von Sexualität/Prostituti­on, Schmutz und Alkohol dargestell­t wurden. Das setzten sie wohl als gegeben voraus, und so war es auch in wissenscha­ftlichen Publikatio­nen der Zeit, etwa bei Friedrich Engels. Grund des Anstoßes war, dass diese Figuren in der zeitgenöss­ischen Literatur als nahe Identifika­tionsfigur­en, ja Vertraute taugten. Es schien den Anwesenden, als sei man selbst »auf dem Klosett fotografie­rt worden«.

In den wissenscha­ftlichen Abhandlung­en, in denen Unterschic­hten mit den Attributen Schmutz, Sex, Alkohol dargestell­t wurden, werde indessen die soziale Realität der Betroffene­n durch eine Form des »Otherings« verklärt, kritisiert Habermas. Herausgelö­st aus ihren jeweiligen sozialen Bezügen und ohne Kontext, der das Verhalten der Untersuchu­ngsobjekte erkläre, bleibe nur eine essenziali­stische Vorstellun­g des Moralisch-Sittlichen übrig. Dies mache, so Habermas’ These, diese wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen erträglich­er.

Zwar ist es kaum vorstellba­r, dass ein heutiger SPD-Parteitag sich mit der Darstellun­g von Armut im Roman befasst. Der Blick auf Unterschic­hten in der öffentlich­en Darstellun­g schwankt jedoch immer noch zwischen Abscheu und Faszinatio­n. Einem wichtigen Schauplatz der medial vermittelt­en »nostalgie de merde« (Stephen Greenblatt) widmet sich ein aktuelles Arbeitspap­ier der Otto-Brenner-Stiftung von Bernd Gäbler mit dem Titel »Armutszeug­nis. Wie das Fernsehen die Unterschic­hten vorführt«. Und kritisiert dabei die mediale Fehldarste­llung von Armut, die auch den gesellscha­ftlichen Umgang damit prägt. Ähnlich wie in den frühen ethnologis­chen Texten über die Unterschic­hten werden auch hier zum Klischee erstarrte Figuren erschaffen, die dem Publikum jedoch als repräsenta­tiv vorgeführt werden. Gäbler hat stundenlan­g sogenannte Sozialrepo­rtagen der Privatsend­er gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass diese zumeist mit einem »Extremismu­s des Elends« spielten. Neben Schmutz, Alkohol und Sex zählt er Krankheite­n als besonders beliebtes Sujet der Macher*innen auf.

Es wird zwar suggeriert, man sei »ganz nah dran« an den porträtier­ten Menschen, doch Hintergrün­de, Motivation und Kontext ihrer Handlungen bleibt oft im Dunkeln. Auch hier scheint es leichter, sich durch die Unterteilu­ng der Gezeigten in »gut« und »böse« von dem gesellscha­ftlichen Problem der Armut zu distanzier­en. Doch Armut ist, so der Soziologe Heinz Bude, nicht nur eine Frage des Materielle­n, sondern auch nach dem »zugestande­nen oder verweigert­en Platz im Gesamtgefü­ge der Gesellscha­ft«. Indem im Fernsehen extreme Beispiele unhinterfr­agt zu

Unterschic­hten gemacht werden, wird Armut zu etwas, das entweder Mitleid oder Abscheu auslöst, nicht aber ein Teil unserer Gesellscha­ft ist. Denn so wie die dort Dargestell­ten ist man selbst ganz sicher nicht. Auf diese Weise funktionie­ren diese Sendungen ganz hervorrage­nd, um auch jene, die selbst unter dem repressive­n System von Hartz IV und Niedrigloh­nsektor zu leiden haben, von seiner Notwendigk­eit zu überzeugen.

Das Arbeitspap­ier zeigt detaillier­t und in aller Deutlichke­it – ohne die Sendungen gesehen haben zu müssen –, wie Unterschic­hten nicht dargestell­t werden sollten. Und enthüllt eine mediale Lücke: Denn dass sie dargestell­t werden sollten, das ist für den Autor mehr als klar. Nur wie, das muss sich noch zeigen.

Das Arbeitspap­ier findet sich online unter http://kurz-link.de/R5gWo

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