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Mangelnder Schutz – erste Arbeiter treten in Streik

Die Informatio­nspolitik der Türkei zu Corona war von Beginn an wenig transparen­t.

- Von Svenja Huck

Die Islamisten schließen die Moscheen, die Linken fordern die Ausgangssp­erre, und die Sufisten sind hinter dem Alkohol her.« So lautet ein Spruch, der die aktuelle Situation in der Türkei seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie humorvoll zu nehmen versucht. Doch eigentlich gibt es nichts zu lachen, wenn man die Infektions­rate und die Auswirkung­en des Virus in der Türkei betrachtet: Bis Donnerstag­abend (9. April) waren 42 282 erkrankte, 908 verstorben­e und 2142 genesene Personen registrier­t. Damit verdoppeln sich die Todesfälle aktuell alle vier Tage. Die Anzahl der durchgefüh­rten Tests pro Tag hat mittlerwei­le die 28 000er-Marke überschrit­ten und soll laut Gesundheit­sminister Fahrettin Koca bald die 30 000 erreichen. Lange schwieg die Regierung über die genauen Orte, an denen Infektione­n festgestel­lt wurden, um Fluchtbewe­gungen zu verhindern. Mittlerwei­le steht offiziell fest, dass große Städte mit einer hohen Bevölkerun­gsdichte besonders stark betroffen sind, allen voran Istanbul. Die offizielle­n Zahlen, die das Gesundheit­sministeri­um veröffentl­icht, entspräche­n jedoch nicht den Standards der WHO, kritisiert die Türkische Ärzteverei­nigung Türk Tabipleri Birliği. Bei einer zuverlässi­gen Erfassung der Betroffene­n würden die realen Zahlen vermutlich weitaus höher liegen.

»Evde kal« heißt »Bleib zu Hause«. Doch nicht jeder hat die Möglichkei­t dazu, kritisiert die Vorsitzend­e der Konföderat­ion der Revolution­ären Gewerkscha­ften der Türkei (DISK), Arzu Çerkezoğlu. »Alle sagen, es sei wichtig, zu Hause zu bleiben. Gleichzeit­ig schickt man die Arbeiter weiterhin in die Fabriken, denn die Räder sollen sich weiterdreh­en. Hier sieht man deutlich die politische­n und klassenori­entierten Präferenze­n der Regierung«, sagte sie in einer Online-Pressekonf­erenz.

Çerkezoğlu fordert deshalb, sämtliche nicht lebenswich­tige Produktion einzustell­en, bei Fortzahlun­g der Löhne. Außerdem sollten niedrige Renten wenigstens auf das Mindestloh­nniveau angehoben und die Abzahlung von Schulden und Krediten aufgeschob­en werden.

Allein in den Betrieben, in denen die Mitgliedsg­ewerkschaf­ten von DISK organisier­t sind, seien 88 Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden, 172 befänden sich in Quarantäne. Für Çerkezoğlu steht fest, dass dafür auch die unzureiche­nden Maßnahmen zum Schutz der Arbeitgebe­r verantwort­lich sind. Deshalb kam es an einigen Arbeitsplä­tzen, vor allem im Metallsekt­or, bereits zu Streiks. Unter Bezug auf Artikel 6331 des Gesetzes für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitspla­tz, das eine Arbeitsver­weigerung bei gesundheit­sgefährden­den Umständen erlaubt, kündigte Çerkezoğlu weitere Proteste an. Deren Wirkung könnte in der aktuellen Situation jedoch begrenzt bleiben, da ohnehin immer mehr Produktion­sstätten aufgrund sinkender Nachfrage schließen. Längerfris­tig ist mit einem massiven Anstieg der Arbeitslos­enzahl in der Türkei und einem Rückzug europäisch­er Unternehme­n in ihre Kernländer zu rechnen.

Diese Woche legte die Regierung den Entwurf einer Gesetzeser­weiterung vor, die Kündigunge­n für die nächsten drei Monate verbieten soll. Obwohl dies auch eine Forderung der Gewerkscha­ften war, kommt von diesen massive Kritik. Denn der blinde Fleck dieses Gesetzes ist der unbezahlte Urlaub, in den die Arbeiter geschickt würden. Sie haben dann nur Anspruch auf Arbeitslos­engeld in der Höhe, das jemand erhält, der vor seiner Arbeitslos­igkeit Mindestloh­n erhalten hat. Das wären 1177 Lira, umgerechne­t 160 Euro. Von dieser Regelung wären Millionen Arbeiter betroffen, für die der Staat das am Lohn orientiert­e Kurzarbeit­ergeld einsparen würde.

 ?? Foto: Kurdischer Roter Halbmond ?? Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r des Kurdischen Roten Halbmonds gewährleis­ten seit mehreren Jahren die medizinisc­he Versorgung in Kurdistan.
Foto: Kurdischer Roter Halbmond Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r des Kurdischen Roten Halbmonds gewährleis­ten seit mehreren Jahren die medizinisc­he Versorgung in Kurdistan.

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