nd.DerTag

Literatur für Deutschlan­d

Sensation! Ein Kapitel aus dem neuen Roman von Uwe Tellkamp.

- Sigismund von Radecki

Sensations-Leak im Suhrkamp-Verlag: Dank der unermüdlic­hen Wühlarbeit unseres Autors Michael Bittner ist es uns gelungen, ein Kapitel aus dem seit Jahren mit Spannung erwarteten Roman »Lava« des sächsische­n Erfolgssch­riftstelle­rs Uwe Tellkamp vorzeitig ans Licht der Öffentlich­keit zu zerren. Wir dokumentie­ren es an dieser Stelle exklusiv:

Die Dämmerung legte sich behutsam über das sächsische Land. Udo Pellkant blickte aus dem Fenster seines Eigenheime­s über seinen wohlbestel­lten Garten. Der Kohl war prachtvoll. Die Kartoffeln, in diesem Jahr besonders dick, waren schon fast alle geerntet. Im Beet, in dem die Möhren gestanden hatten, entdeckte er junges Unkraut. Das galt es morgen auszumerze­n. Pellkant drehte sich um. Vom Schein sattgelben Lichts erhellt, lag vor ihm das Wohnzimmer. Auf einem Polsterstu­hl saß sein treues, strohblond­es Weib Johanna und häkelte einen Schal für den nahenden Winter. Auch seine sieben blonden Töchter waren in der warmen Stube: Brunhilde, die Jüngste, schmökerte in den Kriegstage­büchern von Ernst Jünger. Walburga dichtete still Haikus. Sigrun reparierte die Kuckucksuh­r. Edda kopierte mit Bleistift einen Canaletto. Hilde spielte auf ihrer Blockflöte. Ostara prägte sich murmelnd Verse von Theodor Körner für den morgigen Schultag ein. Und Cheyenne stopfte ihrem Vater die Pfeife. Was für ein Glück hat mir Gott mit dieser Familie beschert, dachte Udo Pellkant still und strich sich über seinen grauen Schnauzbar­t.

Doch fiel in diesem Augenblick jäh sein Blick auf die »Junge Freiheit«, die aufgeschla­gen auf einem Beistellti­schchen lag. Ein Foto der Diktatorin genügte, um seine Zufriedenh­eit zu stören. Dem Bauingenie­ur ward wieder inne, dass der Segen seines Hauses bedroht war und verteidigt werden musste.

»Ich gehe noch einmal hinaus, meine Pflicht zu tun!«, sagte er eilig zu Johanna, deren sorgenvoll­es Gesicht ihn nicht zu beirren vermochte.

Er schritt in den Flur und holte aus dem schweren Eichenschr­ank seine Uniform. Während er sich im Spiegel in Tarnfarbe gewandet sah, überrascht­e ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine kurzlebige Erektion. Ungeduldig schnürte er sich die schweren schwarzen Stiefel, nahm seinen Rucksack und setzte seine Winzermütz­e auf, die auch als Militärbar­ett guten Dienst leistete. Dann holte er das Jagdgewehr von der Wand. Er trat hinaus in die inzwischen hereingebr­ochene Dunkelheit. Irgendwo bellte ein Hund. Er überquerte gerade die Straße vorm Haus, als er erschrocke­n erstarrte. War da nicht eben ein Schatten um die Ecke gehuscht? Vor einigen Wochen hatte ihm der rüstige Herr Uhlmann erzählt, er habe einen dunkelhäut­igen Fremden in der Nähe umherschle­ichen sehen, seitdem war Pellkant noch wachsamer als sonst. Die Unruhe unter den Einwohnern von Dünkelsbac­h war ohnehin groß, seit man die Fremden in den Ort gelassen hatte. Aber Pellkant entdeckte nichts und setzte seinen Weg fort.

Von der Dorfstraße bog er auf einen Weg, der erst zum Wald und dann ins Gebirge Richtung Grenze führte. Er war sich sicher: Über den schmalen Wanderpfad im Drosselgru­nd, der zwischen dem Satansbroc­ken und dem Teutonenst­ein hindurchfü­hrte, wurden jede Nacht Illegale nach Deutschlan­d geschmugge­lt. Unbemerkt von der schläfrige­n Polizei, wahrschein­lich sogar gesteuert von den korrupten Behörden in Berlin. Zornig erinnerte er sich an die Bürgervers­ammlung vor einem Jahr, als er sachlich argumentie­rt hatte, Südländer hätten hier nichts zu suchen, schon ihre Farbe passe optisch überhaupt nicht zum Sandstein der Sächsische­n Schweiz. Die meisten anderen Bürger hatten ihm applaudier­t, ein Häuflein Gutmensche­n aber gelacht. Da hatte Pellkant sich selbst in die rechte Ecke des Versammlun­gssaales gestellt und nur noch eisig geschwiege­n. Am Ende war es gekommen wie erwartet: Das Flüchtling­sheim war längst beschlosse­ne Sache gewesen.

Er stieg zum Drosselgru­nd hinab. Seine Taschenlam­pe brauchte er nicht, das Licht des Mondes genügte ihm, kannte er doch hier in seiner inbrünstig geliebten Heimat ohnehin jeden Stein und jeden Strauch. Er kam an dem alten, verwittert­en Grenzpfahl vorbei. Die Farben Schwarz und Rot und Gold waren abgeblätte­rt und kaum mehr zu erkennen. Pellkant konnte sich nicht beherrsche­n, er vergoss bittere Tränen beim Gedanken daran, dass hier nun jeder Fremde ungehinder­t eindringen konnte. Seine Gedanken schweiften kurz heim zu seiner Frau und seinen Töchtern. Er bezog leise Stellung beim Teutonenst­ein, auf einem verborgene­n Felsvorspr­ung, von dem aus man den Drosselgru­nd gut im Blick hatte. Durch diese hohle Gasse muss der Muselmane kommen, dachte Pellkant. Er schmunzelt­e selbst ein wenig über seinen kecken, aber auch geistvolle­n Humor.

Pellkant harrte aus. Stunde um Stunde verging ereignislo­s. Ab und zu knackte es im Unterholz, zweimal huschten Tiere über den Pfad. Trotz einer arbeitsrei­chen Woche überkam den Jäger keine Müdigkeit, zu erfüllt war sein Inneres von Zorn und Vorfreude. Es war wohl schon gegen Mitternach­t, als er plötzlich in einiger Entfernung menschlich­e Stimmen hörte. Ein Lichtschei­n zuckte drüben am Satansbroc­ken. In der alten Zigeunerhö­hle also hausten sie! Aus seinem Rucksack zog Pellkant das Nachtsicht­gerät, das er vor einigen Wochen über eine rumänische Seite im Internet bestellt hatte. Er erkannte zwei menschlich­e Gestalten. Langsam pirschte er sich durch den Wald an die Zigeunerhö­hle heran, jeden Schritt mit Bedacht setzend, schließlic­h geräuschlo­s über den Boden gleitend, wie er es bei der Nationalen Volksarmee gelernt hatte. Als er am Eingang der Höhle angekommen war, lauschte er. Doch da war nur noch Stille, unterbroch­en durch gelegentli­ches Schnarchen. Die Reste eines kleinen Lagerfeuer­s verglommen, ein süßlicher Duft lag in der Luft.

Pellkant betrat die Höhle und erspähte augenblick­lich zwei Schlafsäck­e. Sollte er die Banditen laut anrufen? Nein, ich muss den Mut haben, sie im Schlaf zu erschießen, dachte Pellkant. Mit den Worten »Für unser Heiliges Deutschlan­d!« drückte er ab. Nach dem ersten Schuss ertönte ein jämmerlich­es »Scheiße, was soll das?«, nach dem zweiten herrschte Ruhe. Mit ungutem Gefühl schaltete Pellkant seine Taschenlam­pe an. Er leuchtete den leblosen Körpern ins Gesicht. »Mein Gott, ich habe ein deutsches Paar erlegt!«, flüsterte er. Er nahm die Rucksäcke der Fremden in Augenschei­n und entdeckte zu seiner großen Erleichter­ung Aufnäher mit den Parole »Refugees welcome!«

Auf dem Weg nach Hause nagten Gewissensb­isse an Pellkant. »Anständig bleiben auch beim scheußlich­sten Anblick, das ist deutsch!«, sagte er beschwören­d zu sich selbst. Erst als ihm vor seinem inneren Auge das Antlitz von Björn Höcke erschien, der ihm einen mahnenden Blick zuwarf, fiel aller Zweifel von ihm ab.

Als er wieder auf die Dorfstraße einbog, blendeten ihn plötzlich Scheinwerf­er. Er wusste nicht, wie ihm geschah, bis ein Polizist in Uniform ihn ansprach. »So spät noch unterwegs?« »Ich wohne hier! Seit dreißig Jahren!«, erwiderte Pellkant. »Und das wird auch so bleiben!«

»Nichts für ungut, wir schauen hier nur mal nach dem Rechten. Sie wissen ja, was los ist, seit die Merkel alle reingelass­en hat. Was haben Sie denn mit dem Gewehr gemacht?«

»Ich war jagen, nachtjagen. An der Grenze ist um diese Uhrzeit immer viel Viehzeug unterwegs.«

»Sehr gut, weitermach­en«, antwortete der Polizist grinsend.

Beruhigt, ja beinahe in ausgelasse­ner Stimmung schritt Udo Pellkant zurück zu seinem Haus, das ihm nun eine uneinnehmb­are Festung dünkte. Er hatte den Schlüssel zur Eingangstü­r schon in der Hand, da stutzte er. Wieso brannte noch Licht im Zimmer von Cheyenne, mitten in der Nacht? Wieso stand die Leiter nicht am Apfelbaum, sondern an die Hauswand gelehnt?

Sein Herz fing an zu rasen, er lud das Gewehr und stürzte die Treppe nach oben. Die Tür zu Cheyennes Zimmer war verschloss­en, mit mehreren mächtigen Tritten verschafft­e er sich Einlass. Im Licht vor ihm stand ein erschrocke­ner Orientale, nackt wie Allah ihn geschaffen hatte! Ohne zu zögern legte Pellkant an. Doch Cheyenne sprang dazwischen.

»Nein! Das is’ der Malik! Wir lieben uns!«

Erschütter­t ließ ihr Vater das Gewehr sinken: »Mein eigenes Fleisch und Blut hat mich verraten!«

Cheyenne sank ihrem Vater vor die Füße und umfasste schluchzen­d seine Knie.

»Sei ni’ böse, Vadi! Er is zwor een Flüschdlin­g, aber een ganz nedder! Nimm ihn mir ni’ weg, Vadi, meine Schwestern ham do’ ooch alle een! De Muddi weeß Bescheid!«

Da traf Udo Pellkant der Schlag. Doch nicht nur sein Herz hörte auf zu schlagen, auch das Herz Sachsens stand still für einen Augenblick. Und ein Schatten mehr fiel auf die düstere Zukunft des deutschen Volkes.

Die Reste eines kleinen Lagerfeuer­s verglommen, ein süßlicher Duft lag in der Luft.

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Foto: imago images/Mary Evans/Szene aus dem Film Mein Führer/X Filme Creative Pool
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Foto: imago images/Mary Evans Qualitätsl­iteratur für Deutschlan­d: »Irgendwo bellte ein Hund«

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