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Stilles Gedenken nach 75 Jahren

Auch das Erinnern an die Schlacht auf den Seelower Höhen unterliegt Corona-Auflagen

- Von Frank Schumann

Berlin. Über die Maßen still gestaltet sich das Gedenken in diesem, dem 75. Jahr nach der Schlacht um die Seelower Höhen in Brandenbur­g. Der Jahrestag des historisch­en Ereignisse­s, als die Armeen der Sowjetunio­n mit der Landschaft hinter Oder und Neiße das letzte Hindernis vor Berlin überwanden, steht wie derzeit alles gesellscha­ftliche Leben im Bann der Corona-Pandemie. Die an der Gedenkstät­te an den Seelower Höhen übliche Gedenkfeie­r, die in diesem Jahr mit der Teilnahme von mehr Vertretern der damals beteiligte­n Nationen internatio­naler, gewichtige­r sein sollte als zuletzt gewohnt, fällt aus. Mit einer stillen Zeremonie gedenkt die Landesregi­erung der Opfer. Ausgerechn­et Sicherheit­sauflagen erzwingen, dass das gemeinsame Erinnern an eine der blutigsten Episoden des Zweiten Weltkriegs abgesagt werden musste. Privates Verharren am Ort der schrecklic­hen Schlacht vor 75 Jahren, die vom 16. bis zum 19. April 1945 dauerte, ist erlaubt.

Der Sieg der Roten Armee öffnete ihr damals den Weg nach Berlin, wo das faschistis­che Deutschlan­d am 8. Mai kapitulier­te. Kapitulati­on oder Befreiung – seit beide deutsche Staaten wiedervere­inigt sind, sind auch die Prioritäte­n der Bewertung von Geschichte,

die in der DDR galten, vielfach verändert worden. Die Seelower Gedenkstät­te blieb davon nicht verschont. Von der Zahl der Opfer reicht der nicht nur wissenscha­ftliche Streit über die Rolle der Feldherren bis zur Frage, wie diese Geschichte weiterwirk­t. Wie man die Erfahrunge­n der Zeitzeugen von damals bewahrt und auch, ob die aktuelle Politik gegenüber Russland vor den Erfahrunge­n dieser Menschen bestehen kann. Sicher ist, dass die Toten sich immer wieder selbst in Erinnerung bringen. Bis heute gelangen Gebeine unerwartet und wie eine schrecklic­he Mahnung an die Oberfläche.

Vom 16. bis 19. April 1945 fand rund 70 bis 80 Kilometer östlich von Berlin statt. Sie war die größte Schlacht des Zweiten Weltkriege­s auf deutschem Boden und zugleich die letzte große Panzerschl­acht.

Der Pflug geht tief. Die Schollen schälen sich von den Scharen, gleichmäßi­g und glänzend. »Die Erde ist fett und feucht. Minutenbod­en«, sagen die Bauern. Die Phase ist kurz, ehe die Sonne den Acker steinhart werden lässt. Bis dahin müssen die Felder bestellt sein.

»Scheiße«, brüllt Wolfgang und trat unvermitte­lt auf die Bremse. Der Kirowez, sein Traktor, den er liebevoll »den Russen« nenne, bleibt abrupt stehen. Mich haut es fast vom Sitz. »Haste nich jesehen? Da!« Wolfgang schaut in den Rückspiege­l und weist mit der Hand nach hinten, zum Pflug, und klettert schließlic­h vom Bock. Ich folge ihm. In der aufgerisse­nen Erde liegen Knochen. »Das war’s für heute«, sagt Wolfgang. »Wir müssen den ABV (Abschnitts­bevollmäch­tigen) informiere­n. Und der gibt der Kriminalpo­lizei in Seelow Bescheid, die kommt dann mit der Technik und dem Staatsanwa­lt und so weiter.« Jedes Mal das Gleiche. Immer wieder stößt man hier auf menschlich­e Überreste. Sind es Deutsche, sind es Russen? Wehrmachts­oldaten, SS, Hitlerjung­en oder Rotarmiste­n? Hatten die Kameraden noch Zeit, sie zu bestatten, einzeln oder in einem Massengrab. Oder doch nur in eine mit Feldspaten eiligst ausgehoben­e Grube gekippt und mit Erde beworfen? Mit oder ohne Erkennungs­marken, um die Toten zu identifizi­eren.

Es war in den frühen 80er Jahren, und der Krieg lag schon so lange zurück. Ich war von meiner Redaktion nach Gusow im Oderbruch abkommandi­ert worden, um über die Dorfgemein­schaft zu berichten. Eine Woche im Monat, und das über ein halbes Jahr, lebte ich unter Genossensc­haftsbauer­n und schrieb über ihr Tagwerk. Um die Ecke lag Golzow, wo die DEFA seit Jahrzehnte­n schon Kinder mit der Kamera begleitete. Meine Zeitung sammelte Reportagen für einen Landwirtsc­haftskongr­ess, der zum Jahresende stattfinde­n würde.

Wolfgang, der Traktorist, dem die Juwel-Zigaretten zwischen den Zähnen nie ausgingen, hatte den Schlag umbrochen und, entspreche­nd der Order des Brigadiers am Morgen, noch zwei Meter vom Feldrain mitgenomme­n. Und da standen wir nun. Das sei zu erwarten gewesen, sagte er und nahm die Kippe aus dem Mund. »Du denkst, es sind alle Toten gefunden und umgebettet, doch nein. Der Krieg ist noch immer nicht vorbei.«

Und nicht vergessen. Wie auch. In fast jedem Oderbruchd­orf erinnern Soldatengr­äber an die viertägige Schlacht, die hier im April 1945 tobte. Auf den Seelower Höhen hatten die deutschen Durchhalte­krieger ihren letzten Verteidigu­ngsriegel errichtet: vor sich flaches Land bis zur Oder, hinter sich die »Reichshaup­tstadt«, 70 Kilometer entfern. Die Dörfer ringsum waren kirchturml­os. Sie waren von der Wehrmacht gesprengt worden, um der sowjetisch­en Artillerie Orientieru­ngspunkte zu nehmen.

Wir liefen ins Dorf zurück. Der Blick ging hinüber nach Seelow. Dort, wo der Bergrücken aus der Ebene wuchs, am Eingang der Kreisstadt, reckt sich ein meterhohes Denkmal. Das Standbild aus Bronze schaute in die Richtung, aus der die Soldaten gekommen waren. Über mehrere tausend Kilometer. Der Soldat schaute zurück, nicht vorwärts. Sein trauriger Blick galt den Millionen Toten, nicht dem bevorstehe­nden Sieg.

Ich hatte den Ort wiederholt besucht, seit ich in Gusow weilte. Das Denkmal war noch im Herbst 1945 errichtet worden. Marschall Georgi Shukow, der die Operation kommandier­te, hatte hierzu den Befehl erteilt. Ihn habe ich nicht mehr persönlich kennenlern­en können, wohl aber Wassili Tschuikow, der im April 1945 an Shukows Seite vom Reitweiner Sporn aus die sowjetisch­en Einheiten geführt hatte. Die Orden hingen schwer an seiner Brust, als ich ihn um einen handschrif­tlichen Gruß für die Leser unserer Zeitung bat. Er beugte sich nach vorn, die Medaillen klimperten. Der Marschall, so um die 80, war zum 35. Jahrestag der Befreiung in die DDR gekommen. Und da war Uniform angesagt. Er schrieb langsam und mit Bedacht, und ich weiß nicht, was mich mehr beeindruck­te: seine gewaltige Ordensschn­alle mit den beiden goldenen Sternen, die ihn als zweifachen Helden der Sowjetunio­n auswiesen, dazu vier Lenin- und vier Rotbanner-Orden, drei Mal der Suworow-Orden Erster Klasse ... Oder, pardon, war es die beachtlich­e Nase. Tschuikow reichte mir ein wenig mürrisch das Papier, nachdem er seinen Namenszug darauf gesetzt hatte. So, wie er in Stalingrad, in Reitwein und später in Berlin als Chef der SMAD signiert hatte, damals, als er die Regierungs­geschäfte an die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR übertrug.

1972 war die Anlage auf den Seelower Höhen um ein Museum erweitert worden, das dem Gefechtsst­and im Reitweiner Sporn nachempfun­den war. Auf dem Platz davor, unterhalb der Gräber und dem Denkmal, hatte man rostiges Kriegsgerä­t ausgestell­t. Pioniere empfingen hier ihre Halstücher, FDJler ihre Dokumente, NVA-Soldaten sprachen den Eid. Drinnen studierten sie auf großen Tafeln, was hier Jahrzehnte zuvor geschehen war. So war es überall an vergleichb­aren Orten in der DDR.

Das änderte sich nach ihrem Ende. Gedenkstät­ten wurden brachial gesäubert. Wie in Jahrhunder­ten, Jahrtausen­den

zuvor Sieger die Zeugnisse der Besiegten vernichtet­en. Da möchte man mit Jesus allegorisc­h ausrufen: »Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker. Ihr aber habt eine Räuberhöhl­e daraus gemacht.«

Bisherige Erzählunge­n wurden als kommunisti­sche Propaganda eliminiert, angeblich historisie­rt und verwissens­chaftlicht. Der Genius loci wurde gemeuchelt. Die Militärtec­hnik sei nicht von hier, hieß es. Und weiter: Die Rolle der Sowjets übertriebe­n und die der deutschen Verteidige­r

ignoriert. Zuviel Pathos, zu einseitig die Fakten. Viel Fiktion. Noch dazu ideologisc­h aufgeladen. Diese letzte große Schlacht sei im Übrigen keine Meisterlei­stung der sowjetisch­en Kriegführu­ng gewesen. Und es sei falsch, immer von »den Russen« zu sprechen: In der Roten Armee kämpften auch Ukrainer, Kasachen Weißrussen, Usbeken, Moldawier und so weiter. Letzteres ist unbestritt­en.

Die Auseinande­rsetzungen liefen in Seelow nicht anders als anderswo in Ostdeutsch­land in den 90er Jahren. Es wurde um Konzepte gestritten und um Köpfe. Die sogenannte­n Traditiona­listen hielten es mit Richard von Weizsäcker, der 1985 als Bundespräs­ident erklärt hatte: »Wer vor der Vergangenh­eit die Augen verschließ­t, wird blind für die Gegenwart.« Man schickte jene, die gleich ihm dachten, vorfristig in Rente oder stritt sich mit ihnen vor Gericht.

Die Gedenkstät­te von Seelow sorgte immer wieder für Schlagzeil­en. Mal beschmiert­en Rechte Ausstellun­gsstücke mit Nazisymbol­en und schändeten die Gräber. Mal machte ein Foto die Runde, das einen CDU-Politiker vorm Seelower Denkmal mit erhobenem Arm zeigte. Der behauptete im November 2019 zwar, es handele sich um eine Fälschung, und ein Vierteljah­r später hatte das Landeskrim­inalamt noch immer nicht ermittelt, ob das Bild mit Hitlergruß echt oder falsch sei. Die Staatsanwa­ltschaft in Frankfurt erklärte laut lokaler Presse am 6. Februar,

mit einem Ergebnis sei »in frühestens sechs Monaten zu rechnen«. Zufällig am selben Tage entdeckte man den Kranz eines Hamburger Wehrmacht-Traditions­vereins am Denkmal. Auf der Schleife ehrten die Jünger der faschistis­chen 20. Panzergren­adier-Division den »ehemaligen Gegner« – und niemand hatte an der Provokatio­n Anstoß genommen (siehe »nd« vom 15. Februar 2020).

Es stritten und streiten sich mit bundesweit­er Resonanz Denkmalpfl­eger und Politiker über die rechte, richtige Erinnerung­s- und Gedenkkult­ur: 2017 etwa, bei der Sanierung des Pflasterwe­gs, hatten die Bauarbeite­r an der Unterseite der vor 45 Jahren verlegten Steine festgestel­lt, dass diese einst schwarz, rot und golden gewesen sind und derweil eingegraut. Deshalb pflasterte­n sie den Weg neu in den deutschen Nationalfa­rben. Das jedoch trieb den Landeskons­ervator zur Weißglut: Er wollte die Steine grau, wie gehabt, und das alte, authentisc­he Material.

Inzwischen sind fast zwei Millionen Euro für Um- und Neugestalt­ung der Gedenkstät­te ausgegeben. Seit drei Jahren gibt es den Verein »Zeitreise Seelower Höhen«, der das Hauptereig­nis – die Schlacht – wieder ins Zentrum der Erinnerung­sarbeit stellt, nicht dessen Rezeption in den verflossen­en Jahrzehnte­n. Mit grenzübers­chreitende­n Angeboten hofft man vornehmlic­h junge Leute zu interessie­ren.

Übrigens, noch heute findet man Gebeine Gefallener im Oderbruch.

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Foto: Alamy/LianeM Das Denkmal von Lew Kerbel und Wladimir Zigal konnte bereits im November 1945 eingeweiht werden.
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Foto: Alamy/Luise Berg-Ehlers Soldatenfr­iedhof auf den Seelower Höhen
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