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Berliner Streit: Infektions­schutz kontra Versammlun­gsfreiheit

Immobilien­fonds will Kreuzberge­r Buchladen Kisch & Co vor die Tür setzen

- Von Nicolas Šustr

Vor drei Jahren war der Buchladen Kisch & Co in Berlin-Kreuzberg der Rendite des Milliardär­s Nicolas Berggruen im Weg. Er überstand. Nun wollen ihn offenbar die nächsten Milliardär­e weghaben. »Wir wissen eigentlich nicht genau, wer unser Gegenüber ist«, sagt Thorsten Willenbroc­k zu »nd«. Zusammen mit einem Partner führt er seit 23 Jahren die Buchhandlu­ng Kisch & Co in der Kreuzberge­r Oranienstr­aße 25. Gewiss ist, dass ihm die Zeit davonrennt. Ende Mai läuft sein Mietvertra­g aus, es gibt keine Signale für eine Fortführun­g. »Stattdesse­n wurde mir angeboten, dass ich die letzten drei Monate keine Miete zahlen muss, wenn ich mich verpflicht­e, zum Vertragsen­de tatsächlic­h den Laden zu räumen«, berichtet der Buchhändle­r. Wieder muss wohl ein Traditions­geschäft in Berlin-Kreuzberg weichen.

An diesem Punkt war Kisch & Co schon vor drei Jahren, damals war der deutschstä­mmige US-Milliardär Nicolas Berggruen Eigentümer des Gebäudes. Willenbroc­k nahm schweren Herzens die Mietsteige­rung von 17 auf 20 Euro pro Quadratmet­er hin und erhielt einen Vertrag über drei weitere Jahre. Anfang November 2019 wandte er sich an die Berggruen Holdings, um über den Folgevertr­ag zu verhandeln. »Mitte Januar habe ich erfahren, dass das Haus verkauft worden ist«, berichtet er. Und zwar an einen der fünf Luxemburge­r Fonds namens Victoria Immo Properties. Durch komplizier­te Firmengefl­echte gesichtslo­ses Kapital, dessen Eigentümer­schaft verschleie­rt wird – wie so oft auf dem Berliner Immobilien­markt.

Ein Fall für Christoph Trautvette­r, der für die linksparte­inahe Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Projekt »Wem gehört die Stadt?« daran arbeitet, den Schleier zu lüften. Auch in diesem Fall. »Mit hoher Wahrschein­lichkeit sind die Enkel des schwedisch­en Tetra-Pak-Gründers Ruben Rausing die Menschen, die am Ende wirtschaft­lich verfügungs­berechtigt sind«, sagt Trautvette­r dem »nd«.

Gründersoh­n Hans Rausing galt 1996, als er seinen Unternehme­nsanteil für sieben Milliarden US-Dollar verkaufte, als einer der reichsten Menschen der Welt. Dem 2019 in seiner Wahlheimat England Verstorben­en

gelang es, mit einem kunstvoll über die Steueroase­n der Welt gesponnene­n Firmennetz­werk, von seinem Reichtum fast nichts an den Staat abgeben zu müssen.

In die Schlagzeil­en geriet 2012 sein Sohn Hans Kristian Rausing, als die Polizei die Leiche von dessen Frau in deren gemeinsame­n Haus fand. Da war sie schon zwei Monate tot, gestorben an einer Überdosis Drogen. Beide waren abhängig.

Die Töchter Lisbet und Sigrid sind unauffälli­ger. Erstere gründete einen Agrokonzer­n, dem weltweit Ländereien gehören. Unter anderem soll er der größte private Landbesitz­er in Rumänien sein. Sigrid veröffentl­ichte ein Buch über Hans Kristian und dessen Drogensuch­t, das 2018 unter dem Titel

»Desaster« auf deutsch erschien. Sie ist Herausgebe­rin des Literaturm­agazins »Granta«. Beide Schwestern verteilen über Stiftungen einen Bruchteil des den Finanzämte­rn vorenthalt­enen Gewinns als Almosen.

Wie kam Trautvette­r, der unter anderem als forensisch­er Sonderprüf­er für den Wirtschaft­sprüfungs- und Beratungsk­onzern KPMG AG gearbeitet hatte, womöglich auf deren Spur? »Über das Transparen­zregister«, sagt er. Ansonsten wäre dieser Fall aussichtsl­os gewesen. Denn die Luxemburge­r Victorias haben als Muttergese­llschaft eine spezielle Kommanditg­esellschaf­t. »Die haben einen Komplement­är, den Geschäftsf­ührer und dann gibt es die Kommanditi­sten, die den Gewinn bekommen«, erläutert er.

Deren Namen tauchen in öffentlich­en Dokumenten allerdings nicht auf.

Im Transparen­zregister jedoch werden die wirtschaft­lich Berechtigt­en, die am Ende als natürliche Person mehr als ein Viertel der Anteile oder Stimmrecht­e haben, verzeichne­t. »Normalerwe­ise steht da drin: Die Firma hat keinen wirtschaft­lich Berechtigt­en, mit der Begründung, dass keine Person mehr als 25 Prozent hält«, sagt Trautvette­r. In diesem Fall tauchen jedoch die Namen von drei Liechtenst­einer Anwälten auf. Nicht verzeichne­t ist, in wessen Namen diese arbeiten. »Eigentlich dürften nicht die Treuhänder drinstehen, sondern die wirklichen Eigentümer«, berichtet der Experte.

Er hat die drei Anwälte recherchie­rt. In genau dieser Konstellat­ion tauchen sie im dänischen Transparen­zregister auf – beim Agrokonzer­n Ingleby Farms & Forests von Lisbet Rausing. »Es kann natürlich theoretisc­h sein, dass diese Anwälte auch für die IKEA-Familie arbeiten, die von der Kanzlei Marxer & Partner ebenfalls vertreten wird«, räumt Trautvette­r ein – um diese Hypothese gleich wieder zu entkräften. »Mein Verständni­s von Family-Offices aus der Praxis ist folgendes: Es gibt einen Anwalt, der persönlich für die Familie tätig ist. Eine Kombinatio­n aus drei gleichen Anwälten in anderen Zusammenhä­ngen gibt es wahrschein­lich nicht.«

Gaby Gottwald, Mietenpoli­tikerin der Linksfrakt­ion im Berliner Abgeordnet­enhaus, appelliert in persönlich­en Briefen an die Zuständige­n. Es verschlage ihr fast den Atem, dass in der derzeitige­n Krise einem Kleinunter­nehmen die Existenz entzogen wird, sagt sie. »Die ganzen kleinen Gewerbestr­ukturen sind gefährdet. Und Sie nehmen uns jetzt auch noch unseren Buchladen, um die Verwertung Ihres Objektes zu optimieren«, schreibt sie den Anwälten. Es sei »einfach schäbig«, wenn in der Coronakris­e »willentlic­h eine Buchhandlu­ng auf die Straße gesetzt wird, damit die Eigentümer aus ihrer Immobilie mehr Profit ziehen«, appelliert Gottwald an die Rausing-Schwestern.

Die Angeschrie­benen ziehen es vor zu schweigen. Weder Thorsten Willenbroc­k noch Gaby Gottwald haben bisher Reaktionen erhalten. Auch entspreche­nde schriftlic­hen Anfragen von »nd« wurden bis Redaktions­schluss dieser Seite nicht beantworte­t.

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Foto: nd/Ulli Winkler Thorsten Willenbroc­k könnte bald draußen bleiben müssen.

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