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Grundrecht­e als Infektions­risiko

Linke streitet im Abgeordnet­enhaus für eine Lockerung des Versammlun­gsverbots in der Coronakris­e

- Von Philip Blees

Zur Durchsetzu­ng des Infektions­schutzes sind viele Grundrecht­e eingeschrä­nkt. Die Linke will alternativ­e Aktionsfor­men bei Wahrung des Coronaschu­tzes ermögliche­n. Grüne und SPD sind zurückhalt­ender.

Wie demonstrie­rt man unter den Bedingunge­n einer Pandemie? Diese Frage stellen sich zurzeit viele Aktivist*innen. Anfang April wollte die »Seebrücke« eine Antwort geben: Um auf die dramatisch­e Lage von Geflüchtet­en in Griechenla­nd aufmerksam zu machen, sollte man Schuhe vor dem Brandenbur­ger Tor ablegen – mit Sicherheit­sabstand und -ausrüstung. Die Polizei versuchte, das zu verhindern (»nd« berichtete).

Rechtlich ist die Situation klar: Im ersten Absatz des ersten Paragrafen der Verordnung zum Coronaviru­s wird festgehalt­en, dass Versammlun­gen derzeit nicht stattfinde­n dürfen. »Grund hierfür ist allein das mit der Gruppierun­g von Menschen verbundene erhöhte Infektions­risiko«, rechtferti­gt das Martin Pallgen, Sprecher von Berlins Innensenat­or Andreas Geisel (SPD). Absatz sieben ergänzt, dass es Ausnahmen geben kann, wenn nicht mehr als 20 Personen teilnehmen und Maßnahmen zum Infektions­schutz eingehalte­n werden. Ob dies bei einer Versammlun­g gegeben ist, bewerte das zuständige Gesundheit­samt, so Pallgen.

»Die Verordnung ist verfassung­srechtlich zulässig«, sagt Frank Zimmermann,

innenpolit­ischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnet­enhaus, zu »nd«. Es sei eine Abwägung von Grundrecht­en, um den Virus einzudämme­n, und »unvermeidl­ich«.

Ausnahmen werden angeblich auch gewährt, ihr Stattfinde­n ist aber häufig ungewiss. Die Versammlun­gsbehörde genehmigte eine Kundgebung gegen die Corona-Verordnung auf dem Alexanderp­latz mit zwei Personen und eine Kundgebung gegen Kriegsgerä­t am 7. April vor dem Bundeskanz­leramt, teilt die Polizei auf ndAnfrage mit. Vergangene­s Wochenende unterbande­n die Sicherheit­sbehörden erneut eine Versammlun­g von Verschwöru­ngstheoret­iker*innen am Rosa-Luxemburg-Platz. Auch eine Demonstrat­ion in Solidaritä­t mit der linken Kneipe »Syndikat« wurde verboten (»nd« berichtete). Insgesamt seien seit Inkrafttre­ten der Verordnung elf Anträge auf eine Ausnahmezu­lassung von der Polizei abgewiesen worden, so die Behörde.

Das kritisiert die Linksparte­i: »Es gibt Aktionsfor­men, die mit dem Infektions­schutz vereinbar sind«, stellt der innenpolit­ische Sprecher der Linksfrakt­ion, Niklas Schrader, fest. Ein Beispiel sei die Aktion der »Seebrücke«. Seine Kritik habe er auch schon dem Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) mitgeteilt. Dessen Verwaltung möchte sich zu konkreten Vorhaben noch nicht äußern: »In dieser Woche werden Bund und Länder über die entspreche­nden Fragen sprechen und eine Entscheidu­ng treffen«, so Sprecher Pallgen am Dienstag.

Zuvor wolle man nicht über mögliche Anpassunge­n spekuliere­n.

Lösen ließe sich das Problem durch eine Änderung der Verordnung: »Da müssen wir nachbesser­n«, findet der Abgeordnet­e Schrader. Er wünscht sich, dass Versammlun­gen grundsätzl­ich wieder zugelassen werden, wenn die nötigen Schutzmaßn­ahmen gewährleis­tet sind. Mindestabs­tand, eine

Niklas Schrader, Linksfrakt­ion maximale Teilnehmer*innenzahl und stationäre Kundgebung­en statt Demonstrat­ionen – all das könnten Ansätze sein, um die Versammlun­gsfreiheit auch in diesen Zeiten möglich zu machen. »Man sollte dieses Grundrecht bewahren, anstatt es abzuschaff­en«, so Schrader.

Dem stimmt auch Benedikt Lux (Grüne) zu. »Das Grundrecht auf Versammlun­g ist ein ganz besonders Wichtiges«, sagt der Innenexper­te der Grünenfrak­tion. Man solle Einzelfäll­e prüfen und dabei auf eine starke Kooperatio­n zwischen Veranstalt­er und Versammlun­gsbehörde setzen. Seiner Meinung nach wäre dies auch nach jetziger Rechtlage möglich. Ob er eine Anpassung der Verordnung anstrebt, lässt der innenpolit­ische Sprecher offen.

»Es ist ein Problem«, sagt auch Zimmermann. Er ist allerdings unsicher, wie zwischen unbedenkli­chen und bedenklich­en Versammlun­gen in Sachen Infektions­schutz unterschie­den werden kann. Für ihn ist nur klar: Die Grundrecht­e müssen schnellstm­öglich wiederherg­estellt werden, wenn der Normalzust­and zurückkehr­t.

Das sieht auch die Innenverwa­ltung so: »Sie können sicher sein, dass wir die Einschränk­ungen nur so lange aufrechter­halten werden, wie es aus gesundheit­lichen Gründen notwendig ist«, erklärt Pallgen. Spekulatio­nen über eine Zulassung von Demonstrat­ionen nach dem 19. April, wenn die derzeit gültige Corona-Verordnung ausläuft, möchte er nicht anstellen.

Für die angestrebt­en Versammlun­gen am 1. Mai ist dies kein gutes Zeichen. Für Schrader steht fest, dass eine Änderung der Verordnung, wenn überhaupt, dann noch im April erfolgen wird – also vor den wichtigen Versammlun­gen.

Dass es zu einer Verlängeru­ng der Einschränk­ungen kommt, wird bei den Gesprächen mit den innenpolit­ischen Sprechern angedeutet. Wann der Zeitpunkt der Rückkehr zur Normalität ansteht, weiß niemand so recht. Manch einer vermutet im Mai. Das Versammlun­gsrecht wird bis dahin jedenfalls thematisie­rt. Schrader, der einen Kompromiss mit den anderen Parteien anstrebt, ist sich sicher: »Es wird kontrovers.«

»Man sollte dieses Grundrecht bewahren, anstatt es abzuschaff­en.«

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