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Pflegemiss­stände sind noch offensicht­licher

Das aktuelle Versicheru­ngssystem treibt alte Menschen in die Heime, statt sie in den eigenen vier Wänden fit zu halten

- Von Hermannus Pfeiffer

Die Coronakris­e hat erneut gezeigt, dass ein Neustart in der Versorgung von alten Menschen dringend notwendig ist. Die Anreize im bisherigen System führen zu kaum bezahlbare­n Heimplätze­n.

In Deutschlan­ds Altenpfleg­e laufen die Dinge seit Jahrzehnte­n in die falsche Richtung. So weit, so allgemein bekannt. Die Coronakris­e hat die permanente Misere nun noch weiter verschärft. Politiker verweisen an dieser Stelle gerne auf klamme Kassen und auf eine überforder­te Pflegevers­icherung hin. Doch die Probleme liegen tiefer, in den falschen Anreizen, die von Regierung und Wirtschaft gesetzt werden.

In Deutschlan­d stehen, wie in den meisten EU-Ländern und Großbritan­nien, Geld und Markt als Steuerungs­instrument­e im Mittelpunk­t. Ein Pflegedien­st erhält beispielsw­eise mehr Geld, wenn seine Patienten hilfloser und unselbstst­ändiger werden; Krankenkas­sen müssen weniger zahlen, wenn »Kunden« ins Heim kommen, weil dann die Pflegevers­icherung übernimmt. Letztlich wollen Heimbetrei­ber, Pflegedien­ste, Sanitätshä­user, Vermittler, all jene, die vom System profitiere­n, diesem möglichst viel Geld entnehmen – die anderen, also Pflege-, Krankenkas­sen und Staat, wollen möglichst wenig hineingebe­n. »Weil aber die Anreize, die die deutsche Pflegevers­icherung setzt, wenig mit den Bedürfniss­en der Menschen zu tun haben, orientiere­n sich auch die Interessen der Akteure nicht daran«, fasst der Fachjourna­list Christoph Lixenfeld seine Grundsatzk­ritik zusammen.

Das Ergebnis: Es mangelt an niedrigsch­welligen Angeboten, und viel zu viele Menschen werden in Heime gesteckt. Es geht auch anders. So steht etwa jedem älteren Dänen ein häusliches, betreutes Training pro Tag zu. Rehabilita­tion zu Hause, statt Pflegenots­tand im Heim.

Ein Prinzip, welches übrigens bereits in den 1970er Jahren in der BRD erfolgreic­h praktizier­t wurde, als Zivildiens­tleistende in der »Offenen Altenfürso­rge« tätig waren und alte Menschen daheim besuchten. Wichtiger für deren Gesundheit als die reinen Dienstleis­tungen – vom Einkaufen bis zur einfachen Pflege – waren Gespräche und menschlich­e Zuwendung. Eine ähnlich gute Rolle spielte wohl »Schwester Agnes«, die mobilen Gemeindesc­hwestern in der DDR. Mit der Privatisie­rung und Kommerzial­isierung der Altenbetre­uung wurden diese Ansätze von Politik und Verbänden nicht mehr weiterverf­olgt.

Selbst wenn man Lixenfelds Meinung teilt, dass man das Rad nicht zurückdreh­en kann, unterbreit­et er in seinem Buch »Schafft die Pflegevers­icherung ab!« radikale Vorschläge. Er will mehr niederschw­ellige Angebote: Fitnesstra­ining daheim und in der Klinik, mehr Zeit für die Pflege in den eigenen vier Wänden. Weil solche Angebote »in den Zwischenrä­umen« fehlen, sind die Heime in Deutschlan­d übervoll. Volle Heime rechtferti­gen dann den Bau weiterer Heime, die sich wiederum ihre Nachfrage schaffen.

Ein verhängnis­voller Teufelskre­is. Der kostet. Eine konsequent niederschw­ellige »Pflege« wäre dagegen besser für die Menschen und (selbst bei korrekten Löhnen) ungleich preiswerte­r zu haben als die MassenHeim-Haltung. Eigentlich.

Wenn die gröbsten Qualitätsm­ängel im ganzen Ü60-System zugunsten der Betroffene­n abgestellt würden, dürften die Kosten unterm Strich jedoch noch steigen. Und dass es auch um »Man-Power« geht, betont der Verband für häusliche Betreuung (VHBP): So füllen 300 000 Betreuungs­kräfte aus Polen, Rumänien und Bulgarien die Lücken im deutschen Pflegesyst­em aus – als ob es nicht auch genügend Alte in Osteuropa gäbe.

Lixenfeld will die Betreuten dennoch entlasten. So sollen Heimbewohn­er nur noch einen kleinen, fixen Sockelbetr­ag zahlen. Die deswegen höheren Kosten für die Pflegevers­icherung könnten über drastische Beitragser­höhungen finanziert werden, was politisch nicht durchsetzb­ar erscheint, oder über einen ebenso üppig wachsenden Steuerzusc­huss. Dadurch würde die Finanzieru­ng endlich auf eine breite Basis gestellt. Keine Utopie, wie die Coronakris­e belegt.

Die Pflegevers­icherung gehöre dann abgeschaff­t, so Lixenfeld. Krankenkas­sen »ohne Pflegevers­icherung« hätten dadurch ein eigenes Interesse, ältere Menschen möglichst lange fit zu halten. Gleichzeit­ig sollten die (privaten) Pflegeanbi­eter ähnlich wie in Schweden zu Dienstleis­tern der Kommunen werden. In den Niederland­en hatte ein Neustart des Systems zu einer steuerfina­nzierten Rekommunal­isierung vieler Pflege- und Hauswirtsc­haftsleist­ungen geführt. Diese Maßnahmen, betont Lixenfeld, waren ein »großer Erfolg«.

Von solchem Reformmut ist Deutschlan­d noch weit entfernt. Lixenfelds lebendige Reportage bietet jedoch einen notwendige­n Ansatzpunk­t für einen Systemwech­sel. Das »Bündnis für fairen Wettbewerb in der Altenpfleg­e«, bestehend aus Wohlfahrts­verbänden und der Gewerkscha­ft Verdi, wirbt ebenfalls dafür. Unterm Strich liegen genügend Gutachten und Erfahrunge­n vor, die eine politische Neubewertu­ng ermögliche­n würden.

Christoph Lixenfeld Schafft die Pflegevers­icherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, Taschenbuc­h, 224 Seiten, 12,00 €.

Die Anreize, die die deutsche Pflegevers­icherung setzt, haben wenig mit den Bedürfniss­en der Menschen zu tun.

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