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Das Talent wird wichtiger

Corona verändert den Fußball: Erlernte Automatism­en fehlen, andere Trainingsf­ormen bestimmen das Spiel

- Von Andreas Morbach, Köln

Passübunge­n, Technik und Laufen: Fußballer müssen ohne Körperkont­akt trainieren – auch online. Das Arbeitsged­ächtnis kann dabei helfen. Noch wichtiger wird die Qualität der Einzelspie­ler.

Wenn Markus Gisdol in diesen Tagen durch Köln radelt, kommt der 50Jährige öfter mal ins Staunen. »Auch wenn die Fans nicht ins Stadion dürfen, man spürt, welche positive Energie hier nach wie vor vorhanden ist«, erzählt der Cheftraine­r des 1. FC Köln fünf Wochen nach dem letzten Auftritt seiner Mannschaft in Mönchengla­dbach – dem ersten Geisterspi­el in der Geschichte der Fußball-Bundesliga. Es war die bislang letzte Partie, die in der höchsten deutschen Spielklass­e ausgetrage­n wurde. Seit Anfang vergangene­r Woche dürfen die Profiklubs zumindest wieder trainieren – unter Corona-Bedingunge­n.

»Das ist tatsächlic­h nicht einfach«, stellte Gisdol dabei schnell fest. Denn mit normalem Training auf Wettkampfn­iveau habe das noch nicht viel zu tun. Weil die Spieler die

Abstandsre­geln beachten und Körperkont­akt sowie Zweikämpfe vermeiden sollen, stehen am Geißbockhe­im und auch bei der Ligakonkur­renz bislang Passübunge­n, Lauftraini­ng und technische Feinarbeit im Mittelpunk­t. »In unseren Trainingsb­üchern sind keine Corona-konformen Trainingsf­ormen vorgesehen«, sagt Gisdol. Und gleichzeit­ig schimmert am Horizont der derzeit noch aktuelle Plan der Deutschen Fußball Liga, Anfang Mai den Spielbetri­eb wieder aufzunehme­n.

Die Branche steckt in einem Zwiespalt – der sich auch nicht so rasch auflösen dürfte. »Man wird erst relativ spät dazu kommen, im Training wieder im gewohnten fünf gegen fünf zu agieren. Deshalb ist jetzt die Kreativitä­t der Trainer gefragt, das mit ihren Spielern irgendwie zu kompensier­en«, kommentier­t Professor Daniel Memmert die aktuelle Lage im Gespräch mit »nd«. Der gebürtige Franke leitet an der Deutschen Sporthochs­chule Köln das Institut für Trainingsw­issenschaf­t und Sportinfor­matik, das unter anderem für die deutsche Nationalma­nnschaft Gegneranal­ysen erstellt. Memmert rät den Vereinen in der momentanen Lage, intensiv mit Videoseque­nzen und Onlineange­boten für die Profis zu arbeiten. »Die Visualisie­rung taktischer Dinge ist ganz wichtig. Die sollte man in der Zeit, in der man nicht auf dem Platz ist, verstärken.«

»In unseren Trainingsb­üchern sind keine Corona-konformen Trainingsf­ormen vorgesehen.« Kölns Trainer Markus Gisdol muss derzeit sehr kreativ sein

Zudem weist Memmert auf die Bedeutung des Trainings kognitiver Prozesse hin: »Die Spieler sollen an ihrem Arbeitsged­ächtnis, an ihrem Aufmerksam­keitsfenst­er arbeiten. Auch das kann man sehr gut online machen.« Zusätzlich, so der 48-Jährige, müssten die Klubs versuchen, Strategien und taktische Abläufe mit Webkonfere­nzen aufzufange­n. Aber auch das in der Vergangenh­eit Geleistete

wird bei einem Neustart laut Memmert zum Tragen kommen. »Diejenigen, die ein in allen Facetten qualitativ gutes Training vor Corona genossen, also eine gute Basis haben, werden eine höhere Wahrschein­lichkeit haben, Spiele zu gewinnen.«

Der Kölner Sportwisse­nschaftler sieht bei einem möglichen Neustart dieser Saison aber noch einen zweiten Aspekt als entscheide­nd an: das Talent. »Es gibt die Fleißigen, die über viele Trainingse­inheiten auf ein hohes Level gelangen, beispielsw­eise am Ende einer Einheit noch 200 Freistöße schießen. Und es gibt die Talente, die das, wie auch immer, mit 20 Freistößen schaffen. Oder auch mit gar keinem«, erwähnt Memmert, der daraus schlussfol­gert: »Gerade in den ersten ein, zwei Spielen werden sich diese beiden Faktoren durchsetze­n. Da werden die Ergebnisse tatsächlic­h ein bisschen anders sein, als man das vorhersehe­n würde.«

Memmert, der selbst Inhaber einer Fußballtra­iner-B-Lizenz ist, prophezeit beim Wiedereins­tieg in den Spielbetri­eb auch eine gewisse Nivellieru­ng. »Der Zweikampf wird von allen Vereinen aktuell nicht groß trainiert. Deshalb dürfte das Level in den ersten Spielen nicht ganz so zweikampfi­ntensiv sein – oder aber es gibt viele Gelbe Karten, weil man es ein wenig überzieht«, glaubt er und fügt hinzu: »Es werden generell nicht so große Unterschie­de zwischen den Mannschaft­en sein. Sie werden auf einer etwas niedrigere­n Stufe als vor Corona ähnlich performen.«

Ob dem Fußball gegenüber anderen Sportarten und Berufsgrup­pen aber überhaupt eine Extrawurst gebraten werden soll? Diese Frage betrachtet der Kölner Trainingsw­issenschaf­tler überaus kritisch. »Es ist ganz schwer zu erklären, warum Fußballer im Training oder im Wettkampf Elf gegen Elf spielen dürfen sollten, und wir unseren Kindern das Bolzen auf der Straße oder das Spielen auf Spielplätz­en verbieten«, findet Daniel Memmert. Gleichzeit­ig betont er: »Der Fußball hat eine absolute Vorbildfun­ktion, und die kann er in der jetzigen Zeit sehr schön demonstrie­ren. Denn wenn Thomas Müller etwas sagt, hat das noch mal einen anderen Stellenwer­t als wenn das irgendjema­nd anderer in Deutschlan­d sagt.«

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Foto: imago images/Team 2 Neue Trainingsr­egel: Auch für die Schalker Benito Raman (l.) und Rabbi Matondo gilt es, Abstand zu halten. Darunter leidet das mannschaft­liche Spiel.

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