nd.DerTag

Max Zeising Wie das Virus den Osten herausford­ert

In Sachsen kennt man Umbrüche. Der aktuelle erinnert ein wenig an 1989.

- Von Max Zeising, Leipzig

Die Ostdeutsch­en haben im Lauf der Geschichte ein zwiespälti­ges Verhältnis zum Gehorsam entwickelt. Waren sie dem autoritäre­n Staatsgeis­t der DDR ergeben, wurden sie jahrzehnte­lang von alten Männern zu Fügsamkeit und Denunziati­on erzogen, entwickelt­en sie gerade zur Wendezeit einen widerständ­igen Charakter, der das ohnehin brüchige Konstrukt mit erstaunlic­h friedliche­n Mitteln zum Einsturz brachte. Auch in der Nachwendez­eit zeigten sich die Ostdeutsch­en immer wieder als Widerständ­ler. Zu denken ist an die Streiks gegen Werksschli­eßungen im Zuge der Treuhand-Abwicklung­en und an die Sozialprot­este gegen die Einführung der Agenda 2010, die gerade im Osten viel Zulauf erfuhren.

Dieser Tage wird der Gehorsam der Ostdeutsch­en wieder auf eine harte Probe gestellt. Es gilt, auf Momente der Freiheit, die man vor Kurzem noch für selbstvers­tändlich hielt, für einige Zeit zu verzichten. Ganz besonders in Sachsen, denn hier gelten bis jetzt einige Regeln, die noch über die des Bundes hinausgehe­n. Was macht das mit einer Bevölkerun­g, deren Geschichte eine von Umbrüchen ist, die extremen Zwang und extreme Freiheit in dichter zeitlicher Abfolge erlebte? Und die nun möglicherw­eise vor dem nächsten Umbruch steht – niemand weiß, wie Wirtschaft und Gesellscha­ft nach Corona aussehen werden.

Ostersonnt­ag in Leipzig: Die Stadt hat sich zu einem Spaziergan­g entschloss­en. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche längst, denn das Klima wandelt sich auch in Zeiten, in denen nicht darüber geredet wird. Auch die Menschen wirken aufgewärmt, zugleich sehnsüchti­g nach Orten, an denen sie Mensch sein dürfen. In den Leipziger Parkanlage­n, wo Ostdeutsch­land jünger und bevölkerte­r und akademisch­er ist als auf dem Land, trifft man eine junge Frau, die sich »zuletzt einsam« fühlte, und einen Familienva­ter, der daran zweifelt, dass die Strenge der Maßnahmen angemessen sei. Man trifft Menschen, die das Leben im Sinne Goethes so fröhlich und österlich wie möglich gestalten wollen, zufrieden jauchzend, bei der Buchlektür­e, beim Biertrinke­n und Ballspiel.

Man trifft aber auch Menschen, die dem Chor der Jauchzende­n fernbleibe­n, auf Distanz gehen. Ein rüstiges Rentnerpaa­r, er 91, sie 88. »Willst du?«, fragt er sie, dann redet er selbst: »Den Krieg haben wir erlebt, die Nachkriegs­zeit, aber so etwas noch nie.« Die Maßnahmen findet er richtig, auch die Durchsagen der Polizei, die hier und da ihre Runden dreht und zur Ordnung ruft. Man trifft auch jüngere Menschen, die das Regelwerk »gar nicht so dramatisch« finden, die Vergleiche ziehen zu anderen Staaten, in denen Corona stärker wütet, das Gesundheit­ssystem schlechter präpariert ist und die Regeln härter sind. Auf der Karl-Liebknecht­Straße, wo sich Restaurant an Café reiht, werden Speisen und Getränke an der frischen Luft gereicht. Ein paar Spaziergän­ger greifen zu, es sind willkommen­e Angebote an diesem herrlichen Frühlingst­ag, der Hoffnung macht auf baldige Besserung. Sorgen hat man hier trotzdem. Beim Italiener erzählen sie, dass pro Tag nur noch zehn bis 15 Gäste kommen: »Die Leute haben Angst.«

Diese Mischung aus Angst und Hoffnung, sie erinnert ein wenig an 1989, als ebendieses Gefühl auf den ostdeutsch­en Straßen herrschte, nur dass die Konstellat­ion der Protagonis­ten sich verschoben hat. Neben Staat und Gesellscha­ft ist ein unsichtbar­es Drittes getreten, von dessen Wirkung letztlich alle abhängig sind. Ein Bußgeldbes­cheid, da sind sich die Menschen einig, erscheint in dieser Hinsicht als geradezu lächerlich gegen ein fehlendes Beatmungsg­erät.

Und dennoch: Der staatliche Eingriff in die hart erkämpften Bürgerrech­te lässt viele Ostdeutsch­e nicht unberührt. »Gerade in Zeiten wie diesen sollten wir uns über die Bedeutung der Grundrecht­e bewusst sein und diese nicht einfach aushändige­n«, sagt etwa die Gruppe »Aufbruch Ost«: »Beschränku­ng der Grundrecht­e nur, wenn sie verhältnis­mäßig und nicht willkürlic­h stattfinde­n. Und nach Corona wieder rückgängig gemacht werden. Und zwar zu 100 Prozent.« Die Bürgerrech­tlerin Gesine Oltmanns, die am 4. September 1989 vor der Leipziger Nikolaikir­che das berühmte Transparen­t mit der Forderung »Für ein offenes Land mit freien Menschen« in die Höhe hielt, warnt vor der Rückkehr zu längst überwunden­en Ordnungspr­inzipien: »Es darf auch in der Coronakris­e kein neuer Polizeista­at entstehen.« Oltmanns wünscht sich »neben der sozialen auch eine politische Solidaritä­t«. Diese könne »viel bewegen, wie wir 1989 in unserem Land erfahren konnten«.

Auch sucht man neue Formen des politische­n Protests. Eine unangemeld­ete Demonstrat­ion wie in Berlin gab es im ansonsten bewegten Leipzig zwar nicht, doch immer mehr Häuser sind mit Bannern geschmückt, auf denen Solidaritä­t mit all jenen gefordert wird, die das Auge des Osterspazi­ergängers nur bedingt wahrzunehm­en vermag: Kranke und Krankenpfl­eger, Obdachlose und Geflüchtet­e, Alte und Einsame.

Doch ist da eben auch noch dieses Pflichtbew­usste, dieses Disziplini­erte, das man den Ostdeutsch­en nachsagt, ganz besonders den Sachsen. Auch diesmal wollten sie ihre Hausaufgab­en offenbar besonders gründlich und vor allem schnell erledigen. Noch bevor die Bundesregi­erung am 22. März ihre Leitlinien zur Beschränku­ng sozialer Kontakte vorstellte, war die sächsische Landeshaup­tstadt Dresden mit einer bedingten Ausgangssp­erre auf kommunaler Ebene vorgepresc­ht. Dann ging alles ganz flott, wie der grüne Innenexper­te Valentin Lippmann dem »nd« berichtet: »Andere Kommunen scharrten offenbar mit den Füßen und wollten eine landeseinh­eitliche Regelung. Sozial- und Innenminis­terium reagierten mit einer Allgemeinv­erfügung, zu einem Zeitpunkt, als parallel noch die Absprachen mit der Bundeseben­e liefen.« Dieser Weg, so Lippmann, »war und ist aus meiner Sicht erklärungs­bedürftig. Ich hätte mir da mehr Geduld gewünscht.«

Aber das große Vorbild der sächsische­n Regierung ist möglicherw­eise gar nicht der Bund, sondern Bayern, wo Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) stets voranschre­itet, wenn es Härte und Strenge zu zeigen gilt. So sind die sächsische­n Maßnahmen qualitativ am ehesten mit den bayerische­n vergleichb­ar – und das, obwohl es in Sachsen deutlich weniger Coronafäll­e gibt. Das Gesundheit­sministeri­um unter Leitung von Petra Köpping (SPD) begründet die Strenge der Maßnahmen auf »nd«-Anfrage mit dem »großen Anteil älterer Bürgerinne­n und Bürger, die zur Risikogrup­pe zu zählen sind. Diese gilt es zu schützen.« Doch stoßen die Regeln bei den Regierungs­parteien nicht auf einhellige Zustimmung: »Diese Ausgangsbe­schränkung­en tun mir als liberalem Grünen natürlich sehr weh. Sie sind nur schwer hinzunehme­n und müssen definitiv so schnell wie möglich ein Ende haben«, sagt Valentin Lippmann.

Es ist schwierig zu beurteilen, ob die aktuelle Krisensitu­ation im Osten stärker durch Autoritäts­hörigkeit oder durch Freiheitsw­illen geprägt ist. Fakt ist: Beide existieren nebenher, bekämpfen sich, sind aber auch ineinander verschlung­en, weil das Ziel das gleiche ist: die Rettung der Gesellscha­ft. Um dieses Ziel zu erreichen, wird solidarisc­h gehandelt und entspreche­ndes Handeln auch eingeforde­rt. Was unter Solidaritä­t in Zeiten von Corona zu verstehen ist, definieren die Bürger aber unterschie­dlich: Manch einer geht lieber einen Schritt zurück und fordert einen solchen Rückzug auch von seinen Mitmensche­n – individuel­le Distanzier­ung um des Kollektivs willen. Manch andere schreiten gerade jetzt voran, zeigen sich aktiv und tatkräftig: Politiker beim Verordnen, Bürger beim Helfen, Aktivisten beim Demonstrie­ren.

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Foto: Visum/Christoph Busse

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