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Das Virus bringt Hunger

In Mumbai gibt es 800 Slums. Dort grassiert jetzt die Angst.

- Von Natalie Mayroth

Noch ist die Zahl der Coronafäll­e in Indien überschaub­ar, doch in den Slums von Mumbai ist ihre Ausbreitun­g kaum kontrollie­rbar. Die Behörden reagieren mit strikten Auflagen für die Einwohner.

Zischend schießt weiße Flüssigkei­t aus den Schläuchen. Feuerwehrl­eute versprühen das Desinfekti­onsmittel Natriumhyp­ochlorit. Schritt für Schritt bewegen sie sich durch die engen Gassen des Slums. Insgesamt 800 solcher Wohnsiedlu­ngen gibt es in der indischen Megacity Mumbai. In einigen wurden erste Coronafäll­e bekannt. »Mein Vormittag beginnt damit herauszufi­nden, wer sich in meinem Gebiet angesteckt hat«, sagt der leitende Beamte Kiran Dighavkar, der für die Region rund um den Slum Dharavi zuständig ist. Der 36-Jährige hat lange Tage hinter sich. Mit seinem Team versucht er, die Ausbreitun­g unter Kontrolle zu bringen. Eine fast unlösbare Aufgabe.

Dharavi ist Asiens größter Slum. Als hier der erste Coronafall gemeldet wurde, reagierten die Behörden alarmiert. Seit Ende März gelten nun schon strikte Maßnahmen in Indien, um die Ausbreitun­g der Infektione­n zu begrenzen. Für 1,3 Milliarden Inder wurde eine Ausgangssp­erre verhängt. Zuvor waren Coronainfe­ktionen nur bei Touristen aufgetrete­n. Und bei Besserverd­ienern, die sich Reisen ins Ausland leisten konnten.

Unter den ersten infizierte­n Slumbewohn­ern waren ein Taxifahrer, eine Haushaltsh­ilfe und ein 56-jähriger Textilhänd­ler aus Dharavi. Kurz nachdem die Infektion bei ihm nachgewies­en worden war, starb der Händler im Kasturba-Krankenhau­s. Der Mann war mit Fieber und Atembeschw­erden zum Arzt gegangen. Als Corona-Patient wurde er nicht sofort erkannt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Mumbai noch wenige Fälle, und er gehörte nicht zur Risikogrup­pe, da er keine Auslandsre­ise unternomme­n hatte. Der Mann hatte jedoch Pilger aufgenomme­n, von denen man annimmt, dass sie ihn angesteckt haben. Seine Besucher kamen von einem Treffen der muslimisch­en Glaubensbe­wegung Tablighi Jamaat aus Delhi und machten in Mumbai Station.

Dieses religiöse Treffen, das im vergangene­n Monat mit zahlreiche­n Teilnehmer­n aus Südostasie­n stattfand, soll zur zusätzlich­en Verbreitun­g des Coronaviru­s in Indien beigetrage­n haben. Inzwischen wurden in der westindisc­hen Metropole über 2700 Infektione­n nachgewies­en, in Dharavi über 130, darunter sind elf Verstorben­e.

Die indische Regierung hat inzwischen ein Hilfspaket geschnürt, das 800 Millionen Menschen für die nächsten drei Monate mit Lebensmitt­eln wie Reis und Getreide, Kochgas und Direktüber­weisungen unterstütz­en soll. Es erfasst jedoch vor allem Menschen, die bereits Sozialleis­tungen erhalten. Darunter sind nicht alle namenlosen Slumbewohn­er, die sich Tag für Tag selbst irgendwie selbst über die Runden bringen. Neben den städtische­n Behörden springen landesweit private Initiative­n und Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs) ein, um Lebensmitt­el zu verteilen.

»Uns bleibt nur, symptomati­sche Patienten ausfindig zu machen und sie in staatliche Quarantäne zu verlegen«, sagt Dighavkar. Das verlangt eine akribische Suche. 74 Menschen, mit denen der inzwischen verstorben­e Textilhänd­ler Kontakt hatte, wurden ausfindig gemacht und unter Beobachtun­g gestellt. Doch letztlich können die Behörden mit dem Virus nicht Schritt halten.

In dem gut zwei Quadratkil­ometer großen Gebiet im Herzen Mumbais leben etwa 800 000 Menschen, vielleicht auch mehr. So genau weiß das niemand. Kaum ein anderer Ort der Welt ist so dicht besiedelt. In dem Labyrinth aus Wellblechh­ütten, Garküchen, Moscheen, Märkten, kleinen Tempeln und Kanälen ist es schwer, den Überblick zu behalten.

Herausford­erungen gibt es auf verschiede­nen Ebenen, sagt Dighavkar. Viertel mit erkannten Fällen werden abgeriegel­t und von den Behörden mit Lebensmitt­eln und Medikament­en versorgt, Risikokont­akte müssen isoliert werden. Tausende wurden unter häusliche Quarantäne gestellt, zudem wurden eine Sportanlag­e und Schulen zu Ausweichqu­artieren umfunktion­iert sowie ein Krankenhau­s speziell für Coronaviru­spatienten angemietet.

Allein das Desinfizie­ren ist Sisyphusar­beit. Täglich seien in seinem Gebiet 180 Gemeinscha­ftstoilett­en zu reinigen, sagt Dighavkar. Die Zahl der Essenspake­te, die die Familien für zwei Wochen mit dem Nötigsten versorgen, soll auf über 50 000 erhöht werden. Doch gerade anfangs gingen viele Menschen leer aus. Nichts zu essen zu haben, bereitet vielen daher mehr Sorge, als krank zu werden.

In der vergangene­n Woche wurde der Lockdown bis zum 3. Mai verlängert. Das indische Außenminis­terium nennt die Maßnahmen einen Erfolg. Man habe in den Gefährdung­sprognosen ohne Ausgangssp­erre mit bis zu 820 000 Fällen schon Mitte April gerechnet, offenbarte der indische Diplomat Vikas Swarup. Derzeit sind es knapp 17 600 registrier­te Fälle von

Infizierte­n, 540 Menschen starben mit oder an den Folgen von Covid-19.

Dass den Menschen nun allerdings bald die Lebensmitt­el ausgehen würden, ahnte Raphel Paul, der sonst in Dharavi eine Imbissstub­e betreibt. Seit über drei Wochen hat er kein Essen mehr verkauft. Jetzt gibt er Getreide, Linsen und Zucker umsonst aus. Bekannte helfen ihm bei der Verteilung. »Wenn wir nicht helfen, wer dann?«, fragt er. Ehrenamtli­ch leitet Paul die Nachbarsch­aftsinitia­tive Nagarik Seva Sangh. Am Morgen und Abend ist ihre Essensausg­abe geöffnet. Der 48Jährige hat begonnen, die Besucher zu mahnen, dass sie die Hygienereg­eln beachten sollen. »Die Leute leben auf engem Raum und haben kaum Zugang zu sauberem Wasser. Die meisten benutzen die öffentlich­en Toiletten, weil sie keine eigene haben.« Nicht selten teilen sich acht Menschen die kleinen Wohnungen. Deswegen ist die Möglichkei­t der massenhaft­en Übertragun­g des Virus hier besonders hoch, weiß Paul.

»Ich befürchte, dass wir in den kommenden Tagen nichts mehr ausgeben können, da auch Supermärkt­e Probleme haben, Nachschub zu bekommen«, sagt Paul beim Videogespr­äch. Hinter ihm sind abgefüllte Säcke zu sehen. Seine Familie ist über sein Engagement wenig erfreut. Sie hat Angst, dass er sich anstecken könnte. Mumbai verzeichne­t eine der höchsten Corona-Infektions­raten in Indien.

Durch die lebendige informelle Wirtschaft kommt Dharavi sonst auf einen geschätzte­n Jahresumsa­tz von knapp einer Milliarde Euro. Leder, Textilien und Töpferware­n werden hier gefertigt, Plastik recycelt. Doch so gut wie alle Wirtschaft­sbereiche liegen derzeit flach, in Mumbai und überall in Indien. Seit dem Lockdown haben viele Menschen – gerade auch in Dharavi – ihre Jobs verloren.

Die Not wird jetzt noch sichtbarer. Doch sie ist keine Folge des Virus. Nicht einmal Ergebnis einer Entwicklun­g der vergangene­n Jahre. Der Slum, um den herum Mumbai gewachsen ist, ist über 130 Jahre alt. Bereits unter der britischen Kolonialhe­rrschaft erlebte das ehemalige Fischerdor­f ein massives Wachstum. Fabriken und Arbeiter, die aus der Stadt an den Rand verdrängt wurden, siedelten sich an.

Schon damals zog es die Bevölkerun­g auf der Suche nach Arbeit auch vom Land in das relativ wohlhabend­e Mumbai. Wohnvierte­l und kleine Fabriken entstanden planlos, ohne Sanitäranl­agen und sauberes Wasser. Es gebe daher immer schon viele Gesundheit­sprobleme in Dharavi, sagt Dighavkar.

NGOs sind bemüht, trotz aller Widrigkeit­en weiterzuar­beiten. Auch Dr. Vivek Pai, Leiter des Bombay Leprosy Project, hält den Notfalldie­nst notdürftig aufrecht. »Wir mussten unsere Aktivitäte­n zurückfahr­en«, sagt er. Patienten aus Dharavi würden weiter im städtische­n Gesundheit­szentrum behandelt. Aber es ist nicht immer nach Plan geöffnet. Beratung ist auf ein Minimum reduziert, wird zum Teil über WhatsApp oder E-Mail angeboten. Vorsichtsm­aßnahmen werden empfohlen. Man halte die Sicherheit hoch, nutze Masken und Desinfekti­onsmittel im Gesundheit­szentrum, erklärt Pai.

Die Studentin Neha erzählt am Telefon, dass für jeden größeren Wohnblock ein Krankenwag­en bereitsteh­t. Sie wohnt in einem Umsiedlung­slager in der Nähe des Slums. »Die Menschen in meinem Haus begannen die Lage erst ernst zu nehmen, als jemand gestorben war«, sagt die 20Jährige. Danach schlossen die Geschäfte. Seitdem muss sie weiter laufen, um Vorräte zu besorgen. Wenn sie das Haus verlässt, sieht sie trotz des Verbots junge Männer auf der Straße. »Sie schreien Polizisten an, wenn die sie mit Stockschlä­gen von der Straße scheuchen«, sagt sie.

Denn es ist verboten, nach draußen zu gehen, außer für Lebensmitt­eleinkäufe oder die Versorgung mit Medikament­en. Seit Indien auf Minimalbet­rieb herunterge­fahren ist, fehlt vielen eine Beschäftig­ung und damit ihr tägliches Einkommen, um über die Runden zu kommen. Nur wenige Betriebe dürfen produziere­n, der öffentlich­e Verkehr wurde komplett eingestell­t.

Zu essen habe sie noch, sagt Neha. Doch sie ist um ihre Nachbarn besorgt. »Ich hoffe, sie bekommen ihre Ration rechtzeiti­g«, ohne Lebensmitt­elzuteilun­g wüssten sie nicht, wie sie überleben sollen. Mit der Sorge um den Hunger hat auch die Angst vor der Übertragun­g zugenommen. Ein Teufelskre­is. Die Polizei ist dabei, Risikokont­akte aufzuspüre­n. Aber es sei leicht, sich hier zu verstecken, sagt Neha. Und das ist es, was ihr Unbehagen bereitet.

»Die Leute leben auf engem Raum und haben kaum Zugang zu sauberem Wasser. Die meisten benutzen die öffentlich­en Toiletten, weil sie keine eigene haben.«

Imbisshänd­er Raphel Paul, der jetzt Nahrungsmi­ttel kostenlos verteilt

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 ?? Fotos: AFP/Indranil Mukherjee ?? Die eigenen vier Wände – in Slums wie dem von Dharavi ist das eine Übertreibu­ng.
Fotos: AFP/Indranil Mukherjee Die eigenen vier Wände – in Slums wie dem von Dharavi ist das eine Übertreibu­ng.
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