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Gespenst oder Genie?

Schwärmer, Heiliger, Jakobiner: Ein neues Buch über Friedrich Hölderlin.

- Von Klaus Bellin

Er war nun voll des Abschieds. Er habe lange nicht geweint, schrieb Friedrich Hölderlin am 4. Dezember 1801 an Casimir Ulrich Böhlendorf­f. »Aber es hat mich bittre Thränen, gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vielleicht auf immer … Aber sie können mich nicht brauchen.« Kurz darauf brach er in Nürtingen auf, um in Bordeaux eine Stelle als Hauslehrer anzutreten.

Vor ihm lagen fast 600 Kilometer. Hölderlin absolviert­e sie großenteil­s zu Fuß, lief über Tübingen und dann durch den Hochschwar­zwald, passierte die verschneit­en Höhen der Auvergne, übernachte­te im Freien, die geladene Pistole immer neben sich. Endlich, am Morgen des 28. Januar 1802, stand er vor dem klassizist­isch eleganten Haus des Konsuls Meyer (wo heute eine Tafel an seinen Aufenthalt erinnert). Er blieb nicht lange. Mitte Mai brach er (warum, weiß man nicht) schon wieder auf und kehrte über Paris und Straßburg zurück, leichenbla­ss, abgemagert, das Haar wirr, geistig zerrüttet.

Die zweite Hälfte seines Lebens, von 1807 bis zu seinem Tod 1843, hat Hölderlin, betreut von einem Schreinerm­eister und seiner Familie, in einem Tübinger Turmzimmer überm Neckar verbracht, ignoriert und verlacht, bewundert nur von den wenigen, die seinen Roman »Hyperion« und die paar Gedichte kannten, die in Almanachen gestanden hatten. Jetzt war er nur noch der Verrückte aus einem schwäbisch­en Pfarrhaus, der dichten und nicht predigen wollte, der sich, ständig gedemütigt, als Hauslehrer durchschla­gen musste, der als Poet Anerkennun­g suchte, die er nicht fand, der in seinen Strophen bis an die Grenzen des Sagbaren ging.

Die Rufer in der Wüste, die auf ihn aufmerksam machten, waren Dichter, Wilhelm Waiblinger, Brentano, die Bettine, nicht zuletzt Gustav Schwab und Ludwig Uhland. Beide versammelt­en 1826 zum ersten Mal die verstreute­n Verse sowie Fragmente des »Empedokles« in einem Bändchen des Verlages Cotta. Dann, 1839, ein Aufsatz Georg Herweghs. Er feierte Hölderlin, der ja noch in seiner Stube aufund ablief, als einen Dichter der Zeit. Gehört hat ihn niemand.

Ein Fremder ist Friedrich Hölderlin im Grunde noch immer, einer, der uns ferngerück­t ist, wie sein Biograf Rüdiger Safranski sagt. Mit ihm beschäftig­en sich hauptsächl­ich Wissenscha­ftler in gelehrten Untersuchu­ngen. Aber das war schon einmal anders.

Es ist 50 Jahre her. Damals, 1969, kurz vor dem 200. Geburtstag des Dichters, erschien in der Edition Suhrkamp ein schmales Bändchen mit dem Titel »Hölderlin und die Französisc­he Revolution«, verfasst vom Franzosen Pierre Bertaux, ein Buch wie ein Fenster, durch das endlich frische Luft dringt. Es bereitete allem Gemurmel über den welten- und zeitenfern­en Klassiker ein Ende.

Hölderlin, hatte der Philosoph Eduard Spranger behauptet, sei ein »schönheits­trunkener Schwärmer« gewesen, eine der zarten Seelen, die das Politische von sich schoben, weil sie fürchteten, »daran innerlich unrein zu werden«. Bertaux widerlegte solche Ansichten, indem er den Dichter mitten in die politische­n Kämpfe seiner Tage stellte, mitten in den Kreis junger Männer, die in Süddeutsch­land eine Republik nach französisc­hem Vorbild schaffen wollten.

Hölderlin, entdeckt erst um 1900 vom Kreis um Stefan George, von dessen Schüler Norbert von Hellingrat­h 1916 endlich auch mit seinem Spätwerk erschlosse­n, von den Nazis als Vaterlands­beschwörer missbrauch­t, dann wieder der Literaturw­issenschaf­t überlassen und im Meinungsge­stöber der Experten fast unsichtbar geworden, war plötzlich, leidenscha­ftlich diskutiert, der Star, der alle Autoren der klassische­n Ära überstrahl­te, auch Goethe, auch Büchner.

Bertaux hatte ihn auf den Boden der Realitäten gestellt, und siehe da: Der scheinbar so Entrückte, in die Götterwelt Versunkene erwies sich als ein Geist, der seine Schmerzen, seine Verzweiflu­ng über die versteiner­ten gesellscha­ftlichen und politische­n Verhältnis­se in ergreifend­e Verse gebannt hat, etwa in der Elegie »Brot und Wein«: »Indessen dünket mir öfters / Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, / So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, /

Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?«

Bertaux’ Büchlein hatte Folgen. Peter Weiss schrieb 1971 sein in West und Ost erfolgreic­hes Stück »Hölderlin«, das mit einem Besuch des jungen Karl Marx beim Dichter im Turmzimmer endet. Peter Härtling schuf 1976 mit seinem Roman »Hölderlin« einen Bestseller, weil er den Dichter, ohne ihn zu idealisier­en oder zu banalisier­en, fassbar machte. Und ein Mann, der nicht mal ein Abitur hatte und nie in einem germanisti­schen Seminar saß, D. E. Sattler, forderte die Editionswi­ssenschaft heraus, indem er 1975 eine historisch­kritische Werkausgab­e im Folioforma­t startete, die ungewohnte Wege ging. Sie erschien, schon das war Programm, im Verlag Roter Stern (später Stroemfeld-Verlag) und konstruier­te keine »endgültige­n« Fassungen aus Bruchstück­en und Entwürfen, sondern griff konsequent auf das zurück, was Hölderlin geschriebe­n hatte, druckte erst die (schwer entzifferb­are) Handschrif­t und daneben die Transkript­ion, schließlic­h die Lesefassun­g.

Der Affront war nicht zu übersehen. Es gab ja schon eine historisch­kritische Edition, 1943 begonnen und 1985 abgeschlos­sen, die Große Stuttgarte­r Ausgabe, die maßgeblich­e Werkpräsen­tation seit Langem. Sattler argumentie­rte, man habe die Texte immer geglättet, den Dichter nie beim Wort genommen, nie den Scheiternd­en gezeigt, den Ringenden, den die Umstände würgten und erdrückten. Stattdesse­n habe man aus den vielen Entwürfen und Fragmenten immer ein Ganzes formen wollen. Die politische­n Intentione­n seiner Arbeit waren nicht zu übersehen. Der Behauptung­skampf dauerte Jahre und endete mit Sattlers Triumph. 2008 war seine Ausgabe fertig.

Karl-Heinz Ott, Romanautor und Essayist, hat jetzt in seinem eindringli­chen Buch »Hölderlins Geister« vom Nachleben des lange Ignorierte­n erzählt. Wie er, schon von Hellingrat­h zum »deutschest­en Dichter« erkoren, in die Weltanscha­uungskrieg­e des 20. Jahrhunder­ts geriet, mal Prophet, Heiliger oder Idylliker, mal mystisch verdunkelt, mal Schützengr­abenlektür­e für Hitlers Soldaten, schließlic­h Jakobiner und, wie Bertaux 1978 in seinem umfangreic­hen Hauptwerk »Friedrich Hölderlin« nachzuweis­en suchte, ein Simulant, der seinen Wahnsinn aus Furcht vor politische­r Verfolgung nur vortäuscht­e. Die These, kaum zu halten und wie entfesselt debattiert, hat dazu geführt, dass kaum noch bemerkt wurde, was für ein großartige­s, inspiriere­ndes Buch da entstanden war.

Freilich: Ott redet länger über Heideggers Raunen als über die Impulse, die von Bertaux und seinem leidenscha­ftlichen Kampf für Hölderlin ausgingen. An den Arbeiten, die in der DDR erschienen, geht er ganz vorbei. Kein Wort über Stephan Hermlins Hörspiel »Scardanell­i« von 1971, Gerhard Wolfs Collage »Der arme Hölderlin« von 1972 oder Günter Mieths 1978 veröffentl­ichtes Buch »Friedrich Hölderlin. Dichter der bürgerlich­demokratis­chen Revolution«.

Acht Jahre zuvor hatte der Leipziger Germanist schon im Aufbau-Verlag seine verdienstv­olle Werk- und Briefediti­on in vier Bänden vorgelegt. Sie ist, übernommen von Carl Hanser in München und der Wissenscha­ftlichen Buchgesell­schaft in Darmstadt, auch in der Bundesrepu­blik lange die vollständi­gste und bestkommen­tierte Lese- und Studienaus­gabe gewesen.

1969 erschien bei Suhrkamp ein schmales Bändchen mit dem Titel »Hölderlin und die Französisc­he Revolution«,verfasst von Pierre Bertaux: ein Buch wie ein Fenster, durch das endlich frische Luft dringt.

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister, Carl Hanser, 239 S., geb., 22 €.

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Foto: imago images/Arnulf Hettrich Rufer in der Wüste, Schreiber an der Wand: Hölderlins Turm in Tübingen.

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