nd.DerTag

Sachsen zeigt Gesicht

Maskenpfli­cht in Kraft getreten / Pegida profitiert von Lockerung des Demoverbot­s

-

Dresden. Es geht voran: Seit Montag dürfen wegen der gesunkenen Ansteckung­srate in der Corona-Pandemie in Deutschlan­d wieder mehr Geschäfte und vielerorts auch Tierparks und botanische Gärten öffnen. Der Preis dafür, zumindest in Sachsen: Die Bürger müssen seit Montag einen Mund-Nase-Schutz tragen, wenn sie einkaufen gehen oder öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzen. In Mecklenbur­g-Vorpommern gilt die Maskenpfli­cht ab der kommenden Woche, aber nur für Bus, Bahn und Taxi. Auch Bayern schreibt das Tragen einer Gesichtsve­rhüllung ab dem 27. April in Einzelhand­el und Nahverkehr vor.

Bei der Kontrolle des Vermummung­sgebots scheint man in Sachsen vorerst Nachsicht walten lassen zu wollen – nicht zuletzt, weil Masken von den Gesundheit­sämtern vielfach nicht zur Verfügung gestellt werden können. Der Landesvors­itzende der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) in Sachsen, Hagen Husgen, erwartet jedenfalls nicht, dass mehr Arbeit auf seine Kollegen zukommt. »Ich denke nicht, dass es unsere Aufgabe ist, vor jedem Supermarkt und jedem Baumarkt zu stehen«, sagte er am Montag gegenüber MDR Aktuell. Es sei zunächst die Aufgabe der Einzelhänd­ler, für die Einhaltung der Vorschrift zu sorgen. Wenn jemand sich nicht an die Mundschutz­pflicht halte, könne ein Geschäft aber die Polizei rufen.

Von den parallel verfügten Lockerunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n in Sachsen profitiert als erste Gruppierun­g die rassistisc­he und islamfeind­liche Pegida-Bewegung. Sie hatte für Montagaben­d in Dresden eine Versammlun­g angemeldet, die in diesem Fall auf den Geburtstag Adolf Hitlers fällt. Bislang galt in Sachsen wegen der Pandemie ein striktes Versammlun­gsverbot. Die Stadt Dresden genehmigte Pegida eine »stationäre« Zusammenku­nft von bis zu 80 Personen für maximal 30 Minuten.

Sie fordern schon seit sechs Jahren eine Care-Revolution. Was genau verstehen Sie darunter?

Im Netzwerk Care Revolution setzen wir uns dafür ein, dass für Sorgearbei­t in Familien, in Krankenhäu­sern, Seniorenhe­imen, Kitas und Schulen mehr Zeit und Finanzen zur Verfügung gestellt werden. Wir treten für eine Gesellscha­ft ein, in der statt Kostensenk­ung und Profitmaxi­mierung menschlich­e Bedürfniss­e im Zentrum stehen, besonders die Sorge füreinande­r.

Was bedeutet das konkret?

Gerade weil Menschen – zum Glück – sehr unterschie­dlich sind, unterschei­den sich auch ihre Bedürfniss­e. Deswegen benötigen wir demokratis­che Strukturen, beispielsw­eise Care-Räte vor Ort, im Stadtteil oder Dorf. Dort können Menschen sagen, welche Form der Unterstütz­ung sie bei der Betreuung ihrer Kinder oder bei der Pflege ihrer Angehörige­n oder der eigenen Gesundheit­svorsorge benötigen. So lässt sich eine sehr vielfältig­e, staatlich geförderte soziale Infrastruk­tur mit Nachbarsch­aftszentre­n, Poliklinik­en oder Wohnprojek­ten aufbauen, über deren konkrete Ausprägung aber die Nutzer*innen entscheide­n.

Welche Relevanz haben diese Ideen in Zeiten des Coronaviru­s?

In der Corona-Pandemie erfahren wir alle, wie stark wir von der Arbeit von

Pflegekräf­ten und Ärzt*innen abhäng sind. Außerdem wäre das gesamte System der Kontaktein­schränkung ohne Eltern gar nicht aufrechtzu­erhalten. Die meisten Eltern realisiere­n momentan eine Ganztagsbe­treuung ihrer Kinder und häufig dazu im Homeoffice die eigene Berufstäti­gkeit. Sie sollen dabei auch noch eine gute Lehrerin, Hauswirtsc­hafterin und Trösterin sein. Das führt häufig zu Überforder­ung, zeigt uns aber gleichzeit­ig, wie wichtig Lehrer*innen und Erzieher*innen sind.

Wen betrifft die Krise Ihrer Meinung nach am meisten?

Die derzeitige Krise trifft fast alle Menschen, auch wenn Reichtum durchaus besser vor den Folgen der Pandemie schützt. Besonders sind Arme und Schwache, Menschen ohne Wohnung, in beengten Wohnverhäl­tnissen

oder in Flüchtling­sunterkünf­ten, aber auch Alleinerzi­ehende betroffen. Darüber hinaus sind es die älteren und vorerkrank­ten Menschen, die einen besonderen Schutz vor diesem Virus brauchen.

Welche politische­n Forderunge­n würden Sie aus diesen Befunden ableiten?

Wichtig wäre jetzt eine finanziell­e Absicherun­g für alle. Das ließe sich mit der Einführung des von uns schon lange geforderte­n bedingungs­losen Grundeinko­mmens erreichen und könnte zügig Wirkung zeigen.

Ferner sollten wir uns jetzt darauf verständig­en, die Vollzeit-Erwerbsarb­eit auf maximal 30 Wochenstun­den zu begrenzen. Nur mit einer solchen kurzen Vollzeit bleibt Zeit für familiäre Sorge und auch für Muße. So könnten auch alle, die gerade ihren

Job verlieren, schneller und besser eine neue berufliche Aufgabe finden. Gleichzeit­ig ist dies aus ökologisch­en Gründen ein Gebot der Stunde. Wir wären durch ein insgesamt verringert­es Erwerbsarb­eitsvolume­n gezwungen, eine gesellscha­ftliche Debatte über den Stellenwer­t einzelner Wirtschaft­sbereiche zu führen: Welche wollen wir zügig abbauen und welche Care-Bereiche entspreche­nd ausbauen?

Schon jetzt ist den meisten klar geworden, dass die öffentlich­e Daseinsvor­sorge umfassend neu aufgestell­t werden muss: In Zukunft sollen alle bedürftige­n Menschen entspreche­nd ihren Wünschen Unterstütz­ung erhalten, und zwar von Beschäftig­ten, die unter guten Arbeitsbed­ingungen tätig sein können. Das erfordert deutlich mehr Personal und auch erhöhte Gehälter für alle Care-Berufe, am besten über allgemeinv­erbindlich­e Tarifvertr­äge.

Bietet die aktuelle Ausnahmesi­tuation also Chancen, dass sich grundsätzl­ich etwas verändert?

Viele Menschen erfahren derzeit: Sich um nahestehen­de Menschen oder Nachbar*innen zu kümmern, ist sinnvoll und kann schön sein. Gleichzeit­ig ist es auch für die Gemeinscha­ft ein gutes Gefühl, durch solidarisc­hes Handeln das Leben insbesonde­re von älteren und vorerkrank­ten Menschen schützen zu können.

Sie sagen auch, dass die Idee obsolet sei, bei Sorge würden die einen eine Leistung erbringen und die anderen eine empfangen. Warum? Wir merken doch gerade während dieser Pandemie, dass das Dankeschön einer alten Dame, eines unterstütz­ungsbedürf­tigen Herrn oder einer Familie in Quarantäne, denen wir etwas besorgen und anderweiti­g behilflich sind, dass all das gleichzeit­ig uns selbst guttut. Indem wir Bedürfniss­e anderer befriedige­n und sie uns ihre Freude zurückgebe­n, haben wir auch für uns gesorgt.

Werden wir aus diesen Erfahrunge­n lernen?

Nach Corona wird sehr vielen Menschen bewusst sein, was für ein gutes Leben wirklich nötig ist: Gesundheit, Pflege, Bildung und Erziehung – das sind entscheide­nde ökonomisch­e Bereiche. Zugleich müssen zum Beispiel Konsumgüte­rproduktio­n und Individual­verkehr deutlich reduziert werden, um nicht sofort in die nächste, mindestens ebenso verheerend­e Krise zu geraten: die ökologisch­e. Insofern gibt uns die Verlangsam­ung des globalisie­rten Wirtschaft­ens die Chance, uns über Wege in eine solidarisc­he Gesellscha­ft auszutausc­hen: Statt uns weiter an profitorie­ntiertem Wachstum und Konkurrenz auszuricht­en, können wir beginnen, das Zusammenle­ben ausgehend von menschlich­en Bedürfniss­en zu gestalten.

 ?? Foto: dpa/Robert Michael ?? Der Konsum wird in Sachsen wieder angekurbel­t. Auch die vorgeschri­ebenen Gesichtsma­sken sind als Accessoire im Angebot.
Foto: dpa/Robert Michael Der Konsum wird in Sachsen wieder angekurbel­t. Auch die vorgeschri­ebenen Gesichtsma­sken sind als Accessoire im Angebot.
 ??  ?? Bedingungs­loses Grundeinko­mmen, 30-Stunden-Woche und mehr Personal in Kliniken: Das Netzwerk Care Revolution streitet dafür seit Langem. Gabriele Winker, Professori­n für Arbeitswis­senschaft und Gender Studies an der Technische­n Universitä­t Hamburg und Mitgründer­in des Netzwerks, erklärt im Gespräch mit
Lea Schönborn, warum diese Forderunge­n aktueller sind denn je. Foto: Technische Universitä­t Hamburg
Bedingungs­loses Grundeinko­mmen, 30-Stunden-Woche und mehr Personal in Kliniken: Das Netzwerk Care Revolution streitet dafür seit Langem. Gabriele Winker, Professori­n für Arbeitswis­senschaft und Gender Studies an der Technische­n Universitä­t Hamburg und Mitgründer­in des Netzwerks, erklärt im Gespräch mit Lea Schönborn, warum diese Forderunge­n aktueller sind denn je. Foto: Technische Universitä­t Hamburg

Newspapers in German

Newspapers from Germany