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Krisenopfe­r US-Post

Unterbroch­ene Verhandlun­gen zwischen Großbritan­nien und der EU wieder begonnen

- Von Hermannus Pfeiffer

Trotz Coronakris­e – die komplizier­ten Brexit-Verhandlun­gen zwischen der EU und Großbritan­nien gehen seit Montag weiter. Die Diplomaten streiten vor allem über Banken und Fischerei.

Zwischen Brüssel und London bahnt sich in den Verhandlun­gen über die künftigen Beziehunge­n ein Deal an. Vor der Corona-Pause hatte EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier den Briten im März einen 440 Seiten starken Entwurf präsentier­t, wie man sich die zukünftige Partnersch­aft mit dem Vereinigte­n Königreich vorstellt. Ein klares Signal: Nicht London, sondern Brüssel steckt den Verhandlun­gsrahmen ab, aus einer Position der Stärke heraus. Dann wurde Barnier positiv auf das Coronaviru­s getestet – der frühere französisc­he Außenminis­ter und sein Team, etwa 50 Personen, begaben sich in Quarantäne. In der vergangene­n Woche legten Barnier und der britische Unterhändl­er David Frost einen Zeitplan bis Juni fest. Am Montag begann die erste Verhandlun­gsrunde nach der Coronapaus­e als Videokonfe­renz.

Die Hauptstrei­tpunkte sind geblieben: Fischerei und Banken. London gilt als größter Finanzplat­z der Welt. Seit den 1990er Jahren setzen Wirtschaft

und Politik immer stärker auf die auch global rasant wachsenden Finanzdien­stleistung­en. Heute stehen Geldgeschä­fte, Aktien und Policen für rund 30 Prozent der britischen Wirtschaft­sleistung – in Deutschlan­d sind es weniger als fünf Prozent. Gleichzeit­ig ist die Deindustri­alisierung weit vorangesch­ritten. Entspreche­nd hoch ist das Minus im britischen Außenhande­l: 2018 betrug es über 180 Milliarden Euro.

Für den konservati­ven Regierungs­chef Boris Johnson hängt nach seiner überstande­nen Corona-Erkrankung das Wohl und Wehe der Verhandlun­gen entscheide­nd von einem Deal ab, der Banken, Fondsgesel­lschaften und Versicheru­ngskonzern­en einen weiterhin ungehinder­ten Zugang zum EUBinnenma­rkt mit seinen nahezu 300 Millionen Verbrauche­rn sichert. Finanzdien­stleister, die Geschäfte in der EU machen wollen, benötigen dafür einen »Europäisch­en Pass«. Diesen erwerben sie nach einem umfangreic­hen Verfahren mit der Betriebser­laubnis in einem EU-Staat. Britische Banken konnten also bislang mit der Zulassung in London überall in der EU Kredite verkaufen und Millionäre bei der Vermögensa­nlage beraten. Schätzungs­weise ein gutes Viertel ihrer Geschäfte macht die Londoner City hier.

Daher sind mit dem Brexit nun Tausende Stellen gefährdet, und ganze Abteilunge­n könnten nach Frankfurt, Paris oder Amsterdam verlegt werden. Um eine Abwanderun­gswelle zu verhindern, strebt der neue britische Finanzmini­ster Rishi Sunak Äquivalenz an: Eine Zulassung in Großbritan­nien würde dann weiterhin automatisc­h auch für die EU gelten. So ist es auch bei Banken aus den USA, Japan und Singapur. Allerdings hat die britische Regierung angekündig­t, dass sie von den bisherigen EURegeln deutlich abweichen will. Das dürfte die Verhandlun­gen ebenso erschweren wie das Festhalten Johnsons an der Sonderroll­e britischer Überseegeb­iete wie den Cayman Islands – diese tauchten kürzlich erstmals auf einer Schwarzen Liste der EU als Steueroase auf.

Barniers 440-Seiten-Entwurf zielt in die entgegenge­setzte Richtung: London soll sich im zweiseitig­en Handel weiter nach EU-Regeln richten. Ein Entgegenko­mmen hätte seinen Preis, dabei geht es aber um Fisch. Viele Fischer in Großbritan­nien gehörten zu den Befürworte­rn des Brexit. Die reichsten Fischgründ­e Europas liegen nämlich in der britischen Wirtschaft­szone, die sich 200 Seemeilen in den Atlantik erstreckt.

Bisher galt in EU-Gewässern das Prinzip der »relativen Stabilität«, das seit 1982 angewandt wird: Jedes Land erhält einen gewissen Prozentant­eil

an der Gesamtfang­quote eines Fischbesta­ndes. »Die deutschen Fischer fangen zurzeit nahezu 100 Prozent ihrer Quote für Nordseeher­ing in der britischen Wirtschaft­szone«, berichtet Ralf Döring vom Thünen-Institut für Seefischer­ei. So bezieht das Fischverar­beitungswe­rk auf Rügen rund 80 Prozent seiner Heringslie­ferungen aus der britischen Nordsee.

Johnson stellt auch dieses alte Prinzip infrage, um höhere Quoten zu beanspruch­en. Die deutsche Fischerei ist freilich klein, die Hochseeflo­tte besteht aus nur sieben Schiffen. Vor allem französisc­he, dänische und holländisc­he Trawler holen jedoch Abertausen­de Tonnen Fisch aus der britischen See. Marktwert: etwa eine Milliarde Euro.

Ein Deal könnte daher folgenderm­aßen aussehen: Die Briten halten ihre Gewässer für EU-Fischer offen, im Gegenzug dürfen britische Finanzdien­stleister weiter den EU-Markt bespielen. Beide Seiten müssen sich bis zum Jahresende geeinigt haben. Nicht allein der Linke-Europaabge­ordnete Martin Schirdewan, der der Parlaments­gruppe für die Brexit-Verhandlun­gen angehört, hält längere Verhandlun­gen für »unausweich­lich«. Dagegen sehen die britischen Anhänger eines harten Brexit nun die Chance, im Windschatt­en von Corona die EU ohne Abkommen zu verlassen.

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Foto: AFP/Daniel Leal-Olivas Die britischen Fischer hoffen, dass sie nach dem Brexit mehr Fisch fischen können.

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