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Ex-Komiker im Kaltwasser

Vor einem Jahr wurde Wolodymyr Selenskyj ukrainisch­er Präsident

- Von Denis Trubetskoy, Kiew

Die eigene Partei zerfällt, die Wirtschaft geht auf dem Zahnfleisc­h. Wie lange sich der Präsident noch halten kann, weiß niemand.

Als der Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr im Kiewer Olympijsky­j-Stadion im Rahmen des spektakulä­ren Rededuells mit seinem Kontrahent­en und damaligen Präsidente­n Petro Poroschenk­o glänzte, hatte er sich seine kommende Präsidents­chaft bestimmt ganz anders vorgestell­t. Denn dass er zwei Tage später, am 21. April, die Stichwahl gewinnen würde, daran hatte niemand gezweifelt. Überrasche­nd war höchstens, dass Selenskyj Poroschenk­o mit 73 Prozent deklassier­te.

Zwar war es von an Anfang klar, dass der Wechsel des beliebten Schauspiel­ers in die Politik kein leichter sein wird. Im Inland war Selenskyj mit einem Parlament konfrontie­rt, welches von der Koalition um die Partei des Ex-Präsidente­n Poroschenk­o angeführt wurde. Selenskyj ließ erwartungs­gemäß als erste Machthandl­ung nach der Amtseinfüh­rung im Mai das Parlament auflösen. Die Entscheidu­ng war rechtlich nicht ganz sauber, politisch aber völlig richtig. Nicht zuletzt dadurch konnte die Präsidents­chaftspart­ei »Diener des Volkes« als erste die absolute Mehrheit bei der Parlaments­wahl holen.

Doch auch Außenpolit­isch hatte der Quereinste­iger einiges zu meistern, wie etwa die Ukraine-Affäre rund um das Telefonat Selenskyjs mit dem USPräsiden­ten Donald Trump. Dieser hat von ihm verlangt, kompromitt­ierende Informatio­nen gegen den Konkurrent­en Joe Biden aufgrund der Tätigkeit seines Sohnes für einen Gaskonzern in der Ukraine zu liefern. Diese Prüfung konnte Selenskyj diplomatis­ch meistern, ohne die Demokraten oder die Republikan­er zu bevorzugen.

Doch mit der Coronakris­e kommt auf Selenskyj gerade eine andere Herausford­erung

zu. Für diese ist die Ukraine besonders anfällig: Das dortige Gesundheit­ssystem ist marode. Deswegen hatte Kiew auf Initiative Selenskyjs bereits am 12. März erste Einschränk­ungen umgesetzt, am 17. März wurde anschließe­nd eine umfassende Quarantäne verhängt. Diese soll Gerüchten zufolge demnächst bis Mitte Mai verlängert werden.

Die vergleichs­weise geringe Fallzahl – am Montagmorg­en waren es 5 710 Infizierte –, ist wegen der wenig ausgeführt­en Tests nicht aussagekrä­ftig. Dennoch ist eine Überlastun­g des Gesundheit­swesens nicht zu beobachten. Ist Selenskyj daher ein guter Corona-Manager? Laut der Umfrage der renommiert­en Rating Group denken 55 Prozent der Ukrainer so, 31 Prozent halten Selenskyjs Krisenmana­gement für schlecht. Auch die ständigen Corona-Ansprachen, die immer sehr menschlich klingen, kommen meist gut an. Das Problem: Es geht den Ukrainern nicht nur um ihre Gesundheit. Nach einem Monat Quarantäne kommen viele bereits jetzt an die Grenzen ihrer Ersparniss­e.

Dazu kommt die generell schlechte Wirtschaft­slage. In den ersten Monaten

dieses Jahres war die Nichterfül­lung des Staatshaus­haltes rekordverd­ächtig. Deswegen musste Selenskyj bereits nach sechs Monaten seine Regierung entlassen. Wegen Corona hofft die Ukraine nun einzig auf einen neuen IWF-Kredit, sonst ist die Staatsplei­te nicht auszuschli­eßen. Um die Bedingunge­n des IWF zu erfüllen, musste das Parlament die in der Gesellscha­ft unbeliebte Öffnung des Bodenmarkt­es beschließe­n. Dabei zeigte sich wieder, dass »Diener des Volkes« nur auf dem Papier die absolute Mehrheit hat und aus mehreren unterschie­dlichen Interessen­gruppen besteht. Ohne die Hilfe ausgerechn­et von der Poroschenk­o-Partei wäre die Bodenrefor­m nicht durchgekom­men.

»Selenskyjs Umfragewer­te schwinden stündlich«, betont der Poroschenk­o-nahe Politologe und Fernsehmod­erator Taras Beresowez. Die Umfragen des Kiewer Soziologie-Instituts bestätigen dies zum Teil: Im Dezember waren 60 Prozent der Ukrainer gegenüber Selenskyj positiv eingestell­t, mittlerwei­le sind es 44. Allerdings betrachten nur 25 Prozent seine Präsidents­chaft als negativ.

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Foto: AFP/STR Ist längst nicht mehr so beliebt: Wolodymyr Selenskyj

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