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Kein wahres Bildnis im Falschen

Videokonfe­renzen, Webinare oder Online-Vorlesunge­n sind nichts anderes als digital zum Leben erweckte Porträts

- Von Georg Leisten

Don Giuseppe vermisste seine Schäfchen. Das wegen der Coronakris­e verhängte Versammlun­gsverbot zwang auch ihn, vor leeren Kirchenbän­ken zu predigen. Dann kam dem Priester aus der Nähe von Mailand eine zündende Idee: Er bat die Mitglieder seiner Gemeinde, ihm per E-Mail oder über die sozialen Netzwerke Selfies von sich zu schicken. Die druckte er aus und klebte sie auf die Sitzreihen seiner Kirche. Seitdem hat er zumindest die Gesichter der Gläubigen beim Gottesdien­st vor sich. Während der Osterfeier­tage sind auch viele deutsche Pfarrer dem Vorbild ihres oberitalie­nischen Kollegen gefolgt.

Mithilfe moderner Kommunikat­ionstechni­k haben sich die Kirchen auf eine uralte Praxis zurückbeso­nnen: Bilder als Stellvertr­eter von Personen. Gerade im religiösen Kontext besaßen Konterfeis immer schon eine zentrale Funktion. Noch heute werden bei liturgisch­en Feiern Gemälde, Statuen und Ikonen zärtlich-andächtig berührt oder sogar geküsst. Aber ist die körperlich­e Intimität mit der Madonna wirklich nur das allerletzt­e Relikt eines magischen oder mythischen Denkens?

Der Kunsthisto­riker Horst Bredekamp von der Berliner HumboldtUn­iversität beschäftig­t sich schon ein halbes Wissenscha­ftlerleben lang mit der Frage, wie und warum Porträts eine künstliche Lebendigke­it zugesproch­en wird. Bredekamp erkennt in figürliche­n Darstellun­gen einen »substituti­ven Akt«, welcher »Körper als Bilder und Bilder als Körper« behandle. Ausdruck dieses Tauschvorg­angs ist neben allerhand frommen Räuberpist­olen von Kirchenbil­dern, die plötzlich angefangen haben sollen zu weinen oder zu bluten, die Legende der heiligen Veronika. Sie vor allem begründet den Glauben an den leibhaftig­en Ursprung der Bilder. Das Gesicht auf dem Schweißtuc­h, in das Jesu während der Kreuztragu­ng angeblich sein gemarterte­s Antlitz gedrückt hat, wurde als »vera icon«, als wahres Bildnis, zum ikonografi­schen Prototyp für alle anderen Porträts des Erlösers.

In seinem Standardwe­rk »Theorie des Bildakts« hebt Bredekamp hervor, dass vergleichb­are Phänomene im profanen Bereich mindestens ebenso fest verankert sind wie im sakralen. So erinnert der Kunsthisto­riker an einen alten juristisch­en Brauch: War ein Delinquent flüchtig, konnte die Strafe ersatzweis­e an dessen Konterfei vollzogen werden. Ein Kupferstic­h aus dem frühen 18. Jahrhunder­t etwa zeigt einen Galgen, an dem das Porträt des Verurteilt­en baumelt. Selbst im 21. Jahrhunder­t müssen Bilder noch manchmal büßen. Nach der Absetzung

des irakischen Diktators Saddam Hussein war zu erleben, wie dessen Monumental­skulpturen vom Sockel geholt und zerschlage­n wurden. Die Überzeugun­g, dass porträthaf­te Repräsenta­tionen keine toten Artefakte sind, hat sich bis in unser Medienrech­t gehalten. Schließlic­h existiert in vielen Staaten ein einklagbar­es »Recht am eigenen Bild«.

Verdeutlic­ht uns die unerklärli­che Präsenz bildhaft dargestell­ter Personen nicht auch unsere Sehnsucht nach dem Porträt? Speziell in Zeiten, wo Kontaktspe­rren den zwischenme­nschlichen Umgang auf ein absolutes Minimum beschränke­n.

Wenn Whatsapp, Skype oder der Videokonfe­renzdienst Zoom durch die Pandemie das Geschäft ihres Lebens machen, dann deswegen, weil sie etwas zu bieten haben, was per Telefon oder E-Mail nicht zu bekommen ist: Gesichter. Ohne den Videochat mit den weit entfernt sitzenden Freunden und Verwandten würden vermutlich wesentlich weniger Bürger den virologisc­hen Imperativ des Social Distancing­s respektier­en. Bilder als Statthalte­r prägen im Augenblick zahllose Bereiche des Alltags, in denen sonst

Anwesenhei­tspflicht herrscht. Neuerdings bittet der Chef auf dem Computerbi­ldschirm zum Personalge­spräch, erklärt der Mathelehre­r die binomische­n Formeln per Liveschalt­ung, coacht der Coach online. Sogar der Deutsche Bundestag überlegt sich, das eherne Gesetz der leibhaftig­en Präsenz seiner Mitglieder aufzuweich­en und virtuell zu tagen.

Dabei muss man sich eines vor Augen führen: Videokonfe­renzen, Webinare oder Online-Vorlesunge­n sind nichts anderes als digital zum Leben erweckte Porträts. In Bildern steckt tatsächlic­h das Potenzial, Körper zu ersetzen.

Darauf wollte schon der Mythos von Pygmalion hinaus. Der Sage nach entbrannte das Herz des griechisch­en Skulpteurs so innig für eine schöne Frauenstat­ue, dass die Liebesgött­in Venus ihm den Gefallen tat, das Standbild in eine Dame aus Fleisch und Blut zu verwandeln. Auch Sex, so die Moral der antiken Verwandlun­gsfabel, funktionie­rt zur Not über Medien. Weswegen man Pornoseite­n wie Youporn wohl ebenfalls zu den Pandemie-Profiteure­n zählen darf.

Genau darin liegt aber auch eine Gefahr des coronabedi­ngten Bilderboom­s.

Psychologe­n warnen schon lange davor, dass Pornografi­e zum Beziehungs­killer werden kann. Verlagern wir noch mehr soziale Aktivität ins Netz, könnte uns die Nähe, die wir jetzt noch vermissen, irgendwann gar nicht mehr bewusst fehlen.

So wie dem an Fertignahr­ung gewohnten Gaumen das frisch Zubereitet­e unnatürlic­h vorkommt, drohen wir über den praktische­n Vorteilen von Videochats und Livekonfer­enzen zu vergessen, dass visuelle Stellvertr­eter niemals die Originale sind. Denn selbst die höchstaufl­ösende Darstellun­g am Bildschirm substituie­rt das Bedürfnis nach Haut und Haar, nach Stimme, Handschlag und Umarmung allenfalls unvollkomm­en.

Im Übrigen ist auch das vermeintli­ch authentisc­he Stofftuch der heiligen Veronika, wie fast alle christlich­en Körperreli­quien, nur ein verschwitz­tes Fake-Porträt aus dem Mittelalte­r. Es gibt kein wahres Bildnis im Falschen.

War ein Delinquent flüchtig, konnte die Strafe ersatzweis­e an dessen Konterfei vollzogen werden. Ein Kupferstic­h aus dem 18. Jahrhunder­t etwa zeigt einen Galgen, an dem das Porträt des Verurteilt­en baumelt.

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Foto: Unsplash/visuals Das Profane und das Sakrale: Video-Chatting geht über das Menschlich­e hinaus

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