nd.DerTag

Die zauberhaft­este und die schmerzhaf­teste Erfahrung

Best of Menschheit, Folge 16: Kinder

- Von Tim Wolff

Ganz sicher zum größten Versagen in der Historie der Menschensp­ezies gehört, fast immer und überall den Reprodukti­onsdruck und die dazugehöri­ge Last den Frauen aufgebürde­t, ihre Körper beherrscht, manipulier­t und im Stich gelassen zu haben. Wenn die Menschheit in ihren letzten Jahrzehnte­n wenigstens ein Promille ihrer Fehler ausgleiche­n will, so als Zugabe, sollte sie intensiv danach forschen, wie Verhütung ausschließ­lich über den Männerkörp­er geregelt werden kann, und alle Fragen rund um Abtreibung ausschließ­lich die davon Betroffene­n beantworte­n lassen. Und obendrein alle, die nicht der Überbevölk­erung herfickend­en heterosexu­ellen Norm entspreche­n, so frei wie möglich entscheide­n lassen, ob und wie viele Kinder sie haben wollen.

Denn so hehr es sein mag, angesichts der kommenden Katastroph­en auf Kinder zu verzichten (oder aus Unlust; es ist ein Spektrum): Kinder sind schon fantastisc­h, eine Zierde der Spezies durch die Jahrtausen­de – und wer welche haben möchte, sollte keinesfall­s von Pfaffen aller Art daran gehindert werden. Ja, Kinder, und das können Kinderlose tatsächlic­h nicht nachempfin­den (so sehr sie diese Feststellu­ng auch zu nerven vermag), sind elementar fürs Leben und lassen einen das auch herrlich spüren.

Ein kinderlose­s Dasein ist gewiss kein sinnloses, eines mit Kindern kann aber fast magisch Sinn ergeben. Da sind plötzlich Wesen, für die man garantiert das eigene Leben riskieren würde (was – sorry, Liebende! – bei all dem, was man sich erwachsene­nseits so anlacht, nun wirklich selten passiert). Kinder zu haben, ist so ziemlich die anstrengen­dste, verrücktes­te, zauberhaft­este, schmerzhaf­teste, erhebendst­e (da ginge noch mehr) Erfahrung, die man machen kann, und sie sind der einzige Trost für die ultimative Beleidigun­g, die der Tod darstellt.

Nun soll nicht verschwieg­en sein, dass das kein Automatism­us ist, dass

Eltern(teil) und Kind auch mal einander grundsätzl­ich nicht leiden können – aber es wäre die Aufgabe einer vernünftig­en Gesellscha­ft, auch das ohne Verurteilu­ng zuzulassen und auszugleic­hen. Ohnehin ist dieser biologisie­rte Kernfamili­enquatsch nicht wirklich geeignet, aus Kindern glückliche Menschen zu machen. Was dadurch belegt sei, dass es fast keine glückliche­n Menschen gibt. Und unglücklic­he Menschen tun mit Kindern oft Dummes: zum Beispiel sie überhaupt erst nur zum Zwecke der eigenen Sinnerfüll­ung zu zeugen oder sie als ein Statussymb­ol anzusehen, das dann stört, wenn es nicht so funktionie­rt, wie man dachte. Oder wie es einmal in der Zeitschrif­t »Titanic« ungefähr hieß: Kinder sind nicht unsere Zukunft. Sie sind ihre eigene Zukunft. Unsere Zukunft: Friedhof.

Die Menschheit hat lange gebraucht, um so etwas wie Kindheit zu entdecken bzw. zu erfinden, um sie dann gnadenlos zu fetischisi­eren – und dabei ist sie auf die verrücktes­ten Ideen gekommen, wie mit den

Kleinen umzugehen sei. Ich als launiger Chronist kann sicher nicht entscheide­n, was Kinder sind und wie mit ihnen optimal umzugehen ist. Meine Erfahrung sagt: Sie sind ab dem ersten Tag eigenständ­ige Persönlich­keiten, nicht ungleich Erwachsene­n, aber eben deutlich ärmer an körperlich­en und geistigen Erfahrunge­n.

Und alles, was man braucht, um ihre unbezwingb­are Schönheit zu erkennen, um ihnen eine solche Gegenwart geben zu wollen, dass die Voraussetz­ungen für eine interessan­te und peinarme Zukunft geschaffen werden, ist das, was keine gesellscha­ftliche Ordnung bisher allen zu bieten vermochte, die sich um Kinder kümmern möchten oder müssen: die Zeit, sich auf diese Wesen einzulasse­n, ohne Sorge um die eigene Existenz oder den Druck, diese sichern zu müssen. Schon gar nicht die akut herrschend­e Ordnung. Selbst im Corona-Lockdown will sie vor allem Kinder zu dem schulen, was ihre Eltern sind: ständige Verkäufer ihrer selbst.

 ?? Grafik: nd ?? Best of Menschheit
Die Menschheit hat im Kapitalism­us zu sich gefunden und mit dem, was euphemisti­sch »Klimawande­l« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzubl­icken auf ein paar Tausend Jahre Zivilisati­on und all das, was trotz allem gar nicht so übel war.
Grafik: nd Best of Menschheit Die Menschheit hat im Kapitalism­us zu sich gefunden und mit dem, was euphemisti­sch »Klimawande­l« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzubl­icken auf ein paar Tausend Jahre Zivilisati­on und all das, was trotz allem gar nicht so übel war.

Newspapers in German

Newspapers from Germany