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Die Freiheit geht baden

Maria Schrader feiert in ihrer vierteilig­en Miniserie »Unorthodox« das liberale Berlin

- Von Stefan Ripplinger

In der Serie »Unorthodox«, die auf Deborah Feldmans autobiogra­fischem Buch beruht, flieht eine junge Frau aus dem jüdisch-orthodoxen Milieu New Yorks und landet ausgerechn­et in Berlin. Die Miniserie schließt damit an Filme über Fluchten aus konservati­ven Glaubensge­meinschaft­en an, man denke an die der Amischen (Peter Weirs »Der einzige Zeuge«, 1985) oder auch an die der strenggläu­bigen Muslime (Feo Aladağs »Die Fremde«, 2010). Eng verwandt ist die Serie außerdem mit den vielen Filmen über eine Flucht aus dem Sozialismu­s; »Ballon« (2018) von Michael »Bully« Herbig ist dafür das letzte prominente Beispiel. Auch wenn es zunächst anders aussehen mag, geht es in all diesen Werken nicht um bereits untergegan­gene oder untergehen­de Gruppen und Gesellscha­ften, die hier lediglich zur Belustigun­g des Westlers herhalten müssen. Es geht um die Feier des gegenwärti­gen Kapitalism­us. Bei uns Freiheit, bei denen Gefangensc­haft – so lautet die Botschaft.

Ob die traditione­ll lebende Familie der jungen Orthodoxen Esty einigermaß­en korrekt dargestell­t wird, müssen andere entscheide­n. Wir sehen Frauen, die Perücken tragen müssen, wir sehen Männer mit Schtreimel­n, den riesigen Kappen aus Samt und Pelz. Jeder, der ein Zimmer betritt, küsst rituell die Mesura, eine Schriftkap­sel am Türpfosten. Wir lernen eine Kultur kennen, in der Mädchen kein Musikinstr­ument spielen dürfen. Mitten in New York leben Menschen fast unberührt von der technische­n Zivilisati­on. Der Hipster zittert ob der bloßen Vorstellun­g: Smartphone­s sind in dieser Welt verpönt.

Das düstere Bild von den Orthodoxen ist in Deutschlan­d kritisiert worden. Die Springer-Presse (Alan

Posener, »Die Welt«, 3.4.) glaubt sogar antisemiti­sche Klischees zu erkennen. Dieselbe Presse schrieb allerdings über »Die Fremde«, dieser Film über grausame Muslime könne »auch den letzten Ewiggestri­gen« umdrehen (Thomas Abeltshaus­er, »Die Welt«, 15.2.2010) und sparte in ihrer Freude über »Ballon« nicht an Ausrufezei­chen: »Wir sind in der DDR 1979! Vor 39 Jahren! 10 lange Jahre vorm Mauerfall! Das Kino wird zur DDR – und zum seelischen Gefängnis!« (Norbert Körzdörfer, »Bild«, 27.9.2018) Zur Feier der freien Welt bevorzugt ein jeder einen anderen

Pappkamera­den als Gegner. Manche greifen auf Kommuniste­n zurück, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt, andere auf verstreut lebende Sekten und wieder andere auf die Muslime als das große Andere unserer Gesellscha­ft.

Entscheide­nd ist, was vor diesem oder jenem Hintergrun­d die »Freiheit« sein soll. Die kleine Esty, übrigens mit viel Feingefühl gespielt von Shira Haas, kommt ohne Gepäck in Berlin an. Sie geht intuitiv genau in das richtige, supernette Café und lernt genau die richtigen, supernette­n Leute kennen, die ihren Kaffee gern »americano« (als verdünnten Espresso)

nehmen und sich abends in der Großraumdi­scothek »Berghain« vergnügen.

Aber die Freude über diesen glückliche­n Zufall schlägt beim geneigten Zuschauer in Unmut um, wenn Esty, die im Keller des Konservato­riums genächtigt hat, dort von einer Reinigungs­kraft entdeckt und trotz ihres unerlaubte­n Eindringen­s von Musikprofe­ssor Hafez (Yousef Sweid) zu einem Schinken-Sandwich und zu Proben eingeladen wird. Diese Szene ist nicht nur völlig unglaubwür­dig. An ihr fällt auch auf, dass bei der ansonsten profession­ellen Produktion eine Deutsche – die bislang vor allem als Schauspiel­erin bekannte Maria Schrader – Regie geführt hat. Wie Professor Hafez als gütiger Gockel gezeichnet wird, erinnert stark an die Autoritäte­n unseres TV-Vorabendpr­ogramms, an all die Ärzte, Kommissare, Lehrer und Pfarrer.

In Berlin, wo, wie Estys abtrünnige Mutter (Alex Reid) einräumt, eine oder einer sich krummlegen muss, um sich die Freiheit zu verdienen, die sie oder er dann doch nicht genießen kann, scheint der Ausbrecher­in Esty alles zuzufliege­n. Das ist allerdings ein Klischee, kein antisemiti­sches, aber ein prokapital­istisches. Immerhin schimmert etwas Geschichte durch. Dort drüben, sagt Estys Verehrer Robert (Aaron Altaras), als sie zum Baden am Wannsee sind, dort drüben siehst du die Villa, in der die Vernichtun­g der Juden beschlosse­n wurde. »Und da könnt ihr noch in diesem See schwimmen?«, fragt Esty. Es sei doch bloß ein See, erwidert er. Außerdem hätten am anderen Ufer DDRGrenzer ihr Unwesen getrieben. Und nun dürfe jeder in den Wannsee! Wir sind frei! Die Kamera zeigt eine üppige »Deutschlan­d«-Tätowierun­g auf dem Rücken eines Badegasts. In genau diesem Moment möchte man jüdisch-orthodox werden.

Wie hier ein Musikprofe­ssor als gütiger Gockel gezeichnet wird, erinnert stark an die Autoritäte­n unseres TVVorabend­programms, an all die Kommissare, Ärzte und Pfarrer.

»Unorthodox«. USA 2020, Regie: Maria Schrader, vier Folgen à 55 Minuten, seit Ende März auf Netflix.

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Foto: Netflix Estys erstes Bad im Wannsee: »Da drüben ist die Villa, in der die Vernichtun­g der Juden beschlosse­n wurde«

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