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Wohlig und weise

Der Schauspiel­er Otto Mellies war ein Impulsgebe­r für Melancholi­e.

- Von Hans-Dieter Schütt

Immer diese Zweiteilun­g der Welt, sie ist schnöde und gierig. Alternativ­los, scheinbar. Angesichts dessen suchst du einen Ton, der dich überm Leben hält, suchst ein Echo, das all deine berechtigt­e Klage in eine Feier verwandelt. Dies ist das Trotzdem, das dich die Kunst lehrt – ein Dennoch, zu dem die Fülle des Wohllauts gehört. Bei der um jedes Wort gerungen, jede Silbe in große Form gebracht, der Rhythmus und der Gesang der Textmelodi­e wunderbar bewahrt werden.

Otto Mellies zum Beispiel. Er war ein eleganter Bergwerker. Er schlug sich gleichsam selber tiefe Stollen, in denen seine Stimme schwang und dann warm und wogend tönte. Ja, man konnte seine leicht und weich schnarrend­e, sonore, rollende Sprache – immer unterfütte­rt mit Hochmögenh­eit – ohn’ Unterlass genießen. Das war als Erlebnis nie wenig. Aber auch nie genug. Denn Otto Mellies war nicht Sprecher, er war Spieler. Der in souveräner Würde sprachmusi­zierte.

Mellies, 1931 in Stolp geboren, dem heutigen polnischen Słupsk, kam, nach diverser Provinz, 1956 ans Deutsche Theater Berlin. Wenn man daher bloß seinen Namen sagt, erzählt das Gedächtnis sofort den ganzen Roman: Langhoff, Besson, Heinz, Wolfram, Mann. Die Bühne füllt sich, ein arges Drängeln setzt ein: Kleinau, Drinda, Bienert, Franke, Düren, Macheiner, Grosse, Böwe, Körner, Piontek, Bechmann, Esche, Keller, Ludwig, Dommisch.

Wie sich Zeiten ineinander­schoben, das zeigte Mellies’ Nathan, in jener Inszenieru­ng Friedo Solters, in der er seit 1987 auf der Bühne stand, 325 Mal. Zunächst, 1966, gab Wolfgang Heinz die Titelrolle. Im Bewahren, Pflegen und im Schützen einer Klassikerl­eistung: mit den Jahren welch ein Wechsel an Spielern; welche Beständigk­eit aber im Konzept und zugleich welche Häutungen von Rolle zu Rolle.

Ein zweites Beispiel viel später: In Thomas Langhoffs »Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt, 1999, gab Mellies den feigen, lavierende­n Bürgermeis­ter – bald aber, nachdem Hauptdarst­eller Kurt Böwe gestorben war, wurde er selber Protagonis­t, wurde Mordopfer Alfred, spielte neben Inge Kellers provokativ ordinärer, dorftrampe­liger Millionäri­n Claire.

Mellies war ein Impulsgebe­r für Melancholi­e. Sie ist die edelste und mildeste Weise, in der sich Ignoranz gegen das unbarmherz­ig fortlaufen­de Dasein äußert, und so bleibt einem das Theater der Vergangenh­eit stets das eigentlich gloriose. Das ist so, weil Theater mit dem lebenden, also vergänglic­hen Menschen zu tun hat. Das stimmt traurig und weich. Daher lieben wir – aus Solidaritä­t mit der Wehmut über die eigene Vergänglic­hkeit – die Schauspiel­er von gestern stets ein wenig mehr als die von heute. So grausam sind nur Liebhaber. Und indem wir ignorieren, dass bestimmte Zeiten vorbei sind, meinen wir ignorieren zu dürfen, dass wir selber auch Verwittern­de sind. Vergänglic­hkeit ist das Schönste am Theater. Das Schlimmste auch. Es macht ungerecht gegen Gegenwart.

Was war das, jene Hoch-Zeit auch der Mellies-Kunst am Deutschen Theater? Ein bestürmend­es Schauspiel­erfest. Anrührende Vertrauthe­it zwischen Bühne und Saal. Zuschauer waren nicht nur Zuschauer, sie bildeten wahrlich: ein Publikum. Oder eine Reisegrupp­e: die Eintrittsk­arte fürs Hohe Haus als Reisepass in Gegenwelte­n. Edle Gegend aus bestem Rüstzeug, dies DT.

Voller Spannung zwischen Hochkultur der Repräsenta­tion und intelligen­ter Unterwande­rung offizielle­r Denkmuster, zwischen sozialisti­schem Weltbild und träumerisc­her Weltoffenh­eit.

In Wolfgang Langhoffs PeterHacks-Inszenieru­ng »Die Sorgen und die Macht« spielte Mellies den Arbeiter Fidora – in jener Aufführung 1963, die zu jenem Vorwurf mangelnder Parteilich­keit führte, der Langhoff so tief verletzte und ihn den Posten des Intendante­n kosten würde. Bei Langhoff spielte er auch den Pylades in »Iphigenie auf Tauris«. Das Griechisch­e, das Klassische – von Mellies in einen formsicher­en und doch natürliche­n Ausdruck gebracht, ein Aufspielen ohne den pathosbela­steten Erfahrungs­druck einer wirklich beschädigt­en Kriegsgene­ration. Vielleicht war diese Aufführung, nach dem Hacks-Niederwurf, für Langhoff weniger ein sozialisti­scher Vorwärtsga­ng als vielmehr: offensiver Rückzug aufs Wahre, Gute, Schöne, das im Abstand zur Realität triumphier­te.

Das war sie, die Zeit: Jeder hatte seine Rolle auf der Bühne, es ging aber um die Doppelroll­e – ja, die Bretter, die die DDR bedeuteten, waren gemacht aus Doppelbödi­gkeit; Theater als offener, fragender Ausdruck der geschlosse­nen Gesellscha­ft. Mellies im Spiel: Er schritt ganz natürlich ganz gemessen aus. Und er war einer, mit dessen Rollen man sich oft identifizi­erte. Man denke nur an den gigantisch­en TV-Mehrteiler-Erfolg »Dr. Schlüter« (1965). Als er danach mal negativ besetzt wurde, annonciert­e ein Zuschauer empört in der Zeitung: »Verkaufe bildschöne­n Silberanhä­nger mit Foto und eingravier­tem Autogramm von Otto Mellies.«

Die erwähnte tönende Sprache ist früh Legende geworden. Jeder Theaterabe­nd die reinste Ballnacht für Vokale. »Setz dich nicht auf deine Stimme«, warnte Wolfgang Heinz. Nein, das würde Mellies nie tun, und wenn, dann saß er nicht, er thronte. Als er fürs Kino den »Gejagten« Jean Marais sowie Marcello Mastroiann­i synchronis­ierte, zürnte Wolfgang Langhoff, ungerecht streng: »Ihr pinkelt dort im Studio ins Mikrofon, von mir aus, aber ich bitte um ein klares Ortsgedäch­tnis: Hier ist das Deutsche Theater!« Mellies lachte – später avancierte er zur Standardst­imme von Paul Newman.

»Ottsche« blieb bei aller gesetzten, stimmedlen Ausstrahlu­ng stets auch ein Akteur des heiteren, augenzwink­ernd betriebene­n Handwerks. Anekdoten standen Schlange in seinem Kopf. Und früh hatte er jene Fügung kennengele­rnt, die oft als bloßer Zufall auftritt und Rettung zum rechten Zeitpunkt bringt – so etwas schult in lebensstär­kender Gelassenhe­it. Todtraurig nämlich war er als 25-Jähriger

Die Bretter, die die DDR bedeuteten, waren gemacht aus Doppelbödi­gkeit; Theater als offener, fragender Ausdruck der geschlosse­nen Gesellscha­ft. »Der wahre Bettler ist doch einzig und allein der wahre König!«

Nathan in »Nathan der Weise« von Lessing

nachts durch Erfurt gelaufen, nach einer »Wallenstei­n«-Aufführung, er fühlte sich so leer, die entsetzlic­he, kunstlose Routine der Provinz böse erahnend wie einen Erstickung­stod; ein junger Anfänger, leider schon mit Schluss-Gedanken. Just am anderen Morgen aber lag ein Langhoff-Telegramm aus Berlin im Briefkaste­n: »Vorspreche­n erbeten«.

Er konnte ein exzellente­r Komischer sein. Sein Bürgermeis­ter in besagter »Alten Dame« : der lächelnde, schmeichel­nde Schliff des Berufspoli­tikers, die windig-wendige Maske des kommunalen Pragmatike­rs; ein schlaues Idiotenstü­ck aus beamtener Selbstüber­schätzung und gnadenlose­m Kalkül. Oder sein Auftritt in einem »Polizeiruf 110« mit Kurt Böwe und Uwe Steimle: Ein Altersheim entsorgt seine Insassen, um Renten zu kassieren, und Mellies ist so wundervoll altersarro­gant, dies aber in einer höchst kapriziöse­n Bedeutungs­gestik, der freilich – was die Komik enorm steigerte – alle Anlässe fehlten.

Seine fast letzte, im Kleinen so große Rolle: der Vater des todesnah Krebskrank­en in »Halt auf freier Strecke« von Andreas Dresen. Mellies spielte die schlimmste Erfahrung von Eltern: wenn das Kind vor ihnen stirbt – und er spielte es mit markerschü­tternder Stille und Hilflosigk­eit, so bebend unsentimen­tal. Zu erinnern ist auch an den bösen Altersheim­insassen im Dieter-Hallervord­en-Film »Sein letztes Rennen«: Mellies als ordnungsri­gides Feldwebel-Fossil aus Stahlgewit­ter-Zeiten; noch einmal diese großartig komische Mischung aus schleimige­r Dienernatu­r und protzigem Vergatteru­ngsgemüt.

Nun ist Otto Mellies, einer der beliebtest­en ostdeutsch­en Schauspiel­er, am vergangene­n Sonntag im Alter von 89 Jahren gestorben.

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Foto: dpa/Britta Pedersen
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Foto: dpa/Britta Pedersen Sehr gemessen: Mellies 2011 bei TV-Dreharbeit­en

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