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Spätes Erwachen nach Synagogen-Attentat

Studie zu Antisemiti­smus in Sachsen-Anhalt vorgelegt

- Von Hendrik Lasch

Antisemiti­smus ist prägend für den Alltag sachsen-anhaltisch­er Juden. Das stellt eine Studie fest, die aber mehr Sensibilit­ät bei Behörden seit dem Attentat von Halle registrier­t.

In Sachsen-Anhalt sind derzeit zwei Neubauten von Synagogen geplant: in Dessau und Magdeburg. In einer der beiden Städte wurde ein Banner, das auf das Vorhaben hinweist, insgesamt fünfmal beschädigt. Einmal wurde das Wort »Synagoge« herausgesc­hnitten. Ein andermal schrieb jemand mit Kugelschre­iber die Worte darauf: »Zum Niederbren­nen«.

Die Vorfälle finden sich in einem Lagebild zu Antisemiti­smus in Sachsen-Anhalt, das der Bundesverb­and der Recherche- und Informatio­nsstellen Antisemiti­smus (RIAS) jetzt vorgelegt hat. Es beruht auf Interviews mit Mitglieder­n jüdischer Gemeinden in dem Bundesland, die im Sommer 2019 geführt wurden – Wochen vor dem Terroransc­hlag vom 9. Oktober in Halle, bei dem ein Rechtsextr­emer am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versuchte, in die dortige Synagoge einzudring­en und ein Blutbad unter versammelt­en Gemeindemi­tgliedern anzurichte­n.

Die Interviews zeigen, dass der Täter nicht allein ist mit seiner antisemiti­schen Einstellun­g. Vielmehr sei Antisemiti­smus »alltagsprä­gend« für jüdische Menschen in Sachsen-Anhalt, formuliere­n die Autoren. Keiner der Befragten sei in seinem privaten oder Berufslebe­n noch nicht davon betroffen gewesen; zudem habe keiner der Gesprächsp­artner die Hoffnung, dass »ungetrübte­s jüdisches Leben möglich« sei. Die Spanne reicht von Beschimpfu­ngen über tätliche

Angriffe bis zu Sachbeschä­digungen, etwa von Kränzen nach Gedenkvera­nstaltunge­n an den Holocaust. Für den Zeitraum von 2014 bis 2018 wertete RIAS 334 Vorfälle aus im Land, von denen 270 auch von der Polizei registrier­t worden waren.

In Sachsen-Anhalt leben der Studie zufolge rund 1700 Juden, das sind weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerun­g im Land. Insgesamt gibt es fünf Gemeinden in Halle, Magdeburg und Dessau. Der Großteil ihrer Mitglieder stammt aus der früheren Sowjetunio­n und ist in den 90er Jahren in die Bundesrepu­blik gekommen. Seitdem habe Antisemiti­smus »eklatant zugenommen«, zitiert das Papier eine Interviewt­e. Vornehmlic­h gehe dieser von Rechtsextr­emen aus. Die Bereitscha­ft, Vorfälle anzuzeigen, werde als »eher niedrig« bewertet, heißt es in dem Papier, das deshalb empfiehlt, eine zivilgesel­lschaftlic­he und für Betroffene leicht erreichbar­e Meldestell­e einzuricht­en. Die Empfehlung werde das Land aufgreifen, sagte Ministerpr­äsident Reiner Haseloff (CDU). Zudem wolle die Landesregi­erung ein »Aktionspro­gramm gegen Antisemiti­smus« auf den Weg bringen.

Solche Schritte seien nicht zuletzt nach dem Anschlag vom 9. Oktober überfällig, sagte RIAS-Geschäftsf­ührer Benjamin Steinitz. Staatliche Stellen Sachsen-Anhalts müssten »ihre Haltungen aus der Vergangenh­eit auf den Prüfstand zu stellen«. Zum Teil scheint das bereits der Fall zu sein. Eine Nachbefrag­ung nach dem Attentat ergab, dass vor allem in Halle ein »spätes Aufwachen« der Sicherheit­sbehörden registrier­t wurde. Dagegen waren in Interviews im Sommer 2019 noch deutliche Defizite bei staatliche­n Schutzmaßn­ahmen für jüdische Gemeinden beklagt worden.

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