nd.DerTag

Kreuze in Karelien

Dokumente zum Zweiten Weltkrieg von Russlands Inlandsgeh­eimdienst sorgen für Aufregung

- Von Robert Stark, Helsinki

Russlands Geheimdien­st FSB veröffentl­ichte geheime Dokumente zum Zweiten Weltkrieg. Eine Untersuchu­ng soll klären, ob die finnischen Militärbeh­örden einen Genozid im besetzten Ostkarelie­n verübten.

Die Überschrif­ten der Artikel sprechen bereits Bände: »Russland verdächtig­t Finnland des Völkermord­es«, übertitelt­e die finnische Boulevardz­eitung »Ilta Sanomat« ihren Beitrag. Die staatseige­ne, russische Nachrichte­nagentur Sputnik konterte mit »Finnische Medien rechtferti­gen Aufbau von Konzentrat­ionslagern in Ostkarelie­n im Zweiten Weltkrieg«. Besonders Sputnik hält sich in dieser Auseinande­rsetzung mit kräftigen Schlagwort­en wenig zurück.

In der vergangene­n Woche erklärte eine russische Untersuchu­ngskommiss­ion, sie werde prüfen, inwiefern der Umgang mit russischen Zivilisten im besetzten Ostkarelie­n ein Genozid gewesen sein könnte. Die Untersuchu­ng baue dabei auf vormals geheimen Dokumenten des russischen Inlandsgeh­eimdienste­s FSB auf, die kürzlich freigegebe­n wurden. Tatsächlic­h erscheint es fraglich, ob die Untersuchu­ng wesentlich­e neue Erkenntnis­se verfügbar macht. Es ist bereits seit einigen Jahren bekannt, dass russische Karelier in den Lagern der finnischen Militärver­waltung massenhaft umkamen.

Finnland war als Waffenbrud­er Nazideutsc­hlands im Zweiten Weltkrieg in Ostkarelie­n einmarschi­ert und hatte in den besetzten Gebieten über 25 000 Zivilisten in Lagern interniert. Es gab drei Gründe für die Maßnahmen der Militärbeh­örden: Erstens wurden alle ›nicht-nationalen‹ Bewohner der frontnahen Gegenden interniert, zweitens alle ›politisch unzuverläs­sigen‹ Bewohner, gleich welcher Herkunft, und alle ›nicht-nationalen‹ Männer der Jahrgänge 1898 bis 1924. Zur Einteilung der Bevölkerun­g in ›nationale‹ und ›nicht-nationale‹ Gruppen wurden auch ethnologis­che Untersuchu­ngen vorgenomme­n. Als nicht-nationale Personen galten im Besonderen russischsp­rachige Zivilisten. Über 4000

Zivilisten starben in den Internieru­ngslagern, überwiegen­d an Krankheite­n und Unterernäh­rung. Trotz dieser Gräuel kann von einer intentiona­len, geplanten Vernichtun­g aller russischsp­rachigen Karelier keine Rede sein. Die ständige Verwendung von Worten wie ›Konzentrat­ionslager‹ oder ›Genozid‹ durch Sputnik intendiert eine unzulässig­e Gleichsetz­ung mit den Vernichtun­gspolitike­n Nazideutsc­hlands.

In den vergangene­n Jahren kam es von russischer Seite wiederholt zu derartigen Anschuldig­ungen. Auf der finnischen Seite werden diese Vorwürfe

teils als Nebelkerze­n und Desinforma­tionskampa­gnen des Kremls verstanden, die von eigenen Gräueln während des Krieges ablenken sollen.

Eine besonders perfide Kampagne wird seit Jahren rund um das Waldgebiet Sandarmoch in Karelien geführt. Während des »Großen Terrors« 1937/38 wurden dort über 9000 Menschen erschossen. Sowjetisch­e Bauern, ukrainisch­e Strafgefan­gene und Bewohner Kareliens wurden Opfer des stalinisti­schen Terrors. 2018 behauptete eine Historiker­kommission, dass es sich bei den Opfern in den

Massengräb­ern um gefangene Rotarmiste­n handele, die von Finnen erschossen wurden.

Nachkommen der Opfer, unabhängig­e Journalist­en und Historiker kritisiert­en die Untersuchu­ngen als Versuch, die Geschichte von Sandarmoch umzudeuten. Einer der prominente­sten Kritiker, der Museumsdir­ektor

Sergei Koltyrin, wurde in einem geschlosse­nen Verfahren zu neun Jahren Haft wegen Pädophilie verurteilt. Er verstarb Anfang April im Gefängnis. Seine Unterstütz­er gehen bis heute von einem erzwungene­n Geständnis aus, um ihn mundtot zu machen.

Tatsächlic­h ist es am Ende viel Widerspruc­hstoleranz, die man braucht, um diese historisch-politische Auseinande­rsetzung zu verstehen. Obwohl es auch eine Nebelkerze der russischen Behörden ist, sind die historisch­en Fakten eindeutig: Russische Zivilisten starben in den finnischen Lagern mit überpropor­tionaler Häufigkeit. Auf der anderen Seite ist es richtig, dass finnische Historiker in den vergangene­n Jahren die finnische Besatzung Ostkarelie­ns sehr kritisch untersucht haben. Die Reaktionen der finnischen Medien zeigen, wie empfindlic­h dieses Thema immer noch ist.

Über 4000 Zivilisten starben in den Internieru­ngslagern, meist an Krankheite­n und Unterernäh­rung.

 ?? Foto: Zentralarc­hiv Republik Karelien ?? Lager der finnischen Militärver­waltung in Karelien während des Zweiten Weltkriege­s
Foto: Zentralarc­hiv Republik Karelien Lager der finnischen Militärver­waltung in Karelien während des Zweiten Weltkriege­s

Newspapers in German

Newspapers from Germany