nd.DerTag

Massenhaft Masken

Indiens Näherinnen sind nicht vor Ausbeutung geschützt.

- Von Shams Ul Haq

Wo kommen die Schutzmask­en her, um die sich die halbe Welt derzeit rauft? Ein großer Teil aus Asien, dorther, wo die Textilindu­strie zusammenge­brochen ist und Menschen nach Alternativ­en suchen.

Jeden Tag um sechs Uhr steht Arman Khan* auf und macht sich auf den Weg. Seine Frau Amina und seine Kinder Ali, Alam und Suahil schlafen noch. Arman Khan lebt in der Gegend Shri Ram Colony, Khajuri, Delhi. Zu Fuß geht er den Weg zu einer nahe gelegenen Textilfabr­ik im Großraum der indischen Hauptstadt. Dorthin, wo er zuvor gearbeitet hat. Heute arbeitet er nicht mehr in der Firma, dafür aber weiter für die Firma – daheim.

15 Euro Familienve­rdienst für einen ganzen Tag Arbeit

Auch in Indien gelten die Regeln der Coronapand­emie – Lockdown, Ausgangssp­erre und Bewegungse­inschränku­ngen. Arman Khan packt in der Fabrik die Materialie­n ein, die er braucht, und macht sich wieder auf den Heimweg. Und dann nähen er, seine Frau und seine Kinder den ganzen Tag – gesetzesko­nform streng abgeriegel­t von der Außenwelt in ihrer armseligen Wohnung. Bis der Kreislauf am nächsten Tag wieder von vorn beginnt.

Arman Khan und seine Familie arbeiten an einem Gut, das zu einem der weltweit begehrtest­en geworden ist. Ein Gut, wegen dem sich Regierunge­n streiten und gegenseiti­g ausbooten, das zum Gegenstand diplomatis­cher Bemühungen geworden ist. Ein kleines Stück Stoff oder Zellstoff, groß genug, um Mund und Nase eines Menschen zu bedecken, zwei Riemen, die es am Kopf befestigen. Atemschutz­masken. Ein Utensil, das in der westlichen Welt zu einem Symbol des Kampfes um Normalisie­rung geworden ist, um einen Neustart der Wirtschaft, die Rückkehr zur Normalität oder wenigstens den Eintritt in eine »neue Normalität«. Eine Ware, für die Staaten Geld in großen Mengen locker machen.

Die Familie Khan bekommt dafür pro Stück einen Rupi, das sind umgerechne­t 0,012 Euro. 1500 Masken schaffen sie pro Tag. Das macht rund 15 Euro – also drei Euro pro Nase in der Familie Khan.

Die Khans leben in einem ärmlichen Außenbezir­k. Kleine Häuser, enge Gassen, durch die kaum ein Motorrad passt, aber bei Regen der Schlamm fließt. Die Menge von 1500 Masken pro Tag kann die Familie nur mit Hilfe der Kinder schaffen. Und auch wenn sie sich die größte Mühe geben: Was sie in ihren eigenen vier Wänden da zusammennä­hen, entspricht nicht den Standards, denen ein Produkt mit Gesundheit­s- und Hygienefun­ktion gerecht werden müsste. Erst recht nicht in Zeiten der Corona-Pandemie, zu deren Eindämmung sie gedacht sind.

Das Geschäftsm­odell ist einfach. Ein Zwischenhä­ndler aus Neu Delhi holt die Masken von Zeit zu Zeit und verkauft sie dann zum vierfachen Preis innerhalb wie außerhalb Indiens als zertifizie­rte Masken. Arman Khan bekommt ihn kaum zu Gesicht. Er ist froh, die Arbeit zu haben, denn seine Familie braucht Geld, das sie einbringt.

Gefangen in einer illegalen Maschineri­e Zwischenhä­ndler wie Jaibo Diagnistoc & Scientific­s* sind es, die auf diesem Wege derzeit ein Vermögen machen. Jaibo Diagnistoc & Scientific­s produziert, kauft und verpackt Masken und verkauft diese in Neu Delhi weiter an andere Produzente­n oder medizinisc­he Abteilunge­n wie Arztpraxen, Krankenhäu­ser, Apotheken, Pflegeheim­e und auch das Gesundheit­sministeri­um.

Dieser Zwischenhä­ndler bietet zudem medizinisc­he Schutzklei­dung an. Sie ist unabdingba­r bei der Behandlung hochinfekt­iöser Krankheite­n wie Covid-19. Das angebotene Paket besteht aus mehreren Teilen: einem Overall in hellblauer Farbe, einem Paar Handschuhe und einem Paar Schuhüberz­üge sowie Schutzbril­le, Gesichtsma­ske und einem Müllsack.

In der Fabrik, die den Händler beliefert, wird zur Zeit in 24-StundenSch­ichten gearbeitet, weil die Nachfrage so groß ist.

Mit Zertifikat des Gesundheit­sministeri­ums

Wer bei dem Wort Fabrik allerdings an saubere Fertigungs­hallen, an Produktion­sketten und Produktion­sstandards denkt, liegt daneben: Der Sitz der Firma ist eine Werkstatt in einem ähnlich armen Bezirk wie der Arman Khans. Immerhin wird nicht in einer Wohnung produziert, nicht auf einem auch zum Frühstück genutzten Küchentisc­h genäht. Es gibt einige kleine lichtlose Räume, Rollen mit Fertigungs­materialie­n lehnen an einer Wand mit bröckelnde­m Putz. Zugeschnit­ten wird auf einem Holztisch. Nur in die Tür zur Werkstatt haben die Inhaber sichtlich investiert: Sie gleicht der eines Safes.

Solche Firmen stellten auch die als KN 95 oder FFP 2 klassifizi­erten Masken her, gibt ein anderer Zwischenhä­ndler bereitwill­ig Auskunft. Und dies, obwohl eine solche Klassifizi­erung das Okay des Gesundheit­sministeri­ums voraussetz­t.

Die Jaibo Diagnistoc & Scientific­s ist nicht die einzige Firma ihrer Art. Alleine in Neu Delhi gibt es zahlreiche Zwischenhä­ndler, die so vorgehen wie sie und ebenfalls Masken in Heimarbeit anfertigen lassen. Betrachtet man die Firmenadre­ssen näher, sind die Unternehme­n gewöhnlich in Privathäus­ern oder Wohnungen registrier­t. Und auf die Frage, an wen die Masken genau gehen, folgt Schweigen oder eine Geschichte darüber, dass man Menschen helfen wolle und doch nur einer bestehende­n Nachfrage gerecht werde.

Auf den Websites dieser Firmen erhält man den Eindruck, es mit ein hochseriös­en, profession­ellen Unternehme­n zu tun zu haben. Wie bei der Jaibo Diagnistoc & Scientific­s. Und die kann auch Zertifikat­e vorweisen: Dokumente, die für einen Verkauf, vor allem aber auch für den Export unentbehrl­ich sind. Und die Firma kann auf eine jahrelange Erfahrung verweisen: Erste Zertifikat­e wurden 2014 ausgestell­t.

Masken aus der Produktion der Familie Khan gelangen auch nach Europa. Arman Khan weiß nicht genau, wohin. Sein Chef habe ihm nur gesagt, dass sie dorthin transporti­ert werden. Eine Anfrage für ein ausführlic­heres Interview hat der Zwischenhä­ndler zurückgewi­esen.

Not macht ebenso gefügig wie verschwieg­en. Während zahllosen

Tagelöhner­n in Indien dieser Tage wegen der gnadenlose­n staatlich verordnete Zwangsmaßn­ahmen der Hungertod fernab ihrer Familien droht, sind die Khans beisammen und haben zumindest die Möglichkei­t, ihren armseligen Lebensunte­rhalt zu verdienen. Die Familie hat Glück: Sie hat Arbeit, sie hat ein Einkommen. Das verdankt sie den Beziehunge­n des 34-jährigen Vaters zum Zwischenhä­ndler. Der tägliche Spießruten­lauf an den Straßenspe­rren vorbei ist dabei eine Unannehmli­chkeit. Mehr nicht.

Ökonomen wie Menschenre­chtler und humanitäre Helfer sind sich einig: Der Kampf Indiens in dieser Krise wird erst nach der Pandemie so richtig beginnen. Und zwar allen positiven wirtschaft­lichen Parametern zum Trotz. Wegen niedriger Ölpreise, der billigen Arbeitskrä­fte im Land sowie einer prognostiz­ierten ansteigend­en Nachfrage sagt der Internatio­nale Währungsfo­nds dem Land für das Jahr 2021 ein Wachstum von sieben Prozent voraus.

Wanderarbe­iter stecken fest, ihre Familien hungern

Aber Millionen von Tagelöhner­n stehen jetzt vor dem Nichts. Ein Hilfspaket der Regierung im Umfang von 22,5 Milliarden für eben diesen Graubereic­h der Wirtschaft wird allgemein als kaum ausreichen­d und ineffizien­t bezeichnet. Das Geld kommt nicht an bei denen, die es benötigen. Die Wanderarbe­iter versorgen ihre Familien in der Provinz. Viele diese Arbeiter stecken jetzt an den Orten fest, wo sie zuletzt gearbeitet haben. Ohne Arbeit kein Geld. Und ohne Geld kein Essen für Familien. Humanitäre Organisati­onen sagen dem fruchtbare­n und potenziell reichen Schwellenl­and Indien schon bald eine massive Hungersnot voraus.

Solange das Geschäft mit den Masken funktionie­rt, sind die Khans einigermaß­en abgesicher­t. Auch wenn der Lohn von 15 Euro pro Tag gerade einmal reicht, um die Grundverso­rgung für eine fünfköpfig­e Familie zu decken – Nahrung für die Kinder und die Eltern. Die Miete der Zweizimmer­wohnung beträgt 3000 Rupees. Außerdem fallen Kosten für Strom an. Er könne so eben von seinem jetzigen Verdienst leben, sagt Khan. Aber eines Tages, so hofft er, werde die Fabrik ja auch wieder aufmachen. Wann, das steht allerdings in den Sternen.

* Namen von der Redaktion geändert

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Foto: Shams Ul Haq
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Fotos: Shams Ul Haq Homeoffice in Indien – Familie Khan zu Hause bei der Arbeit
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