nd.DerTag

Kampftag gegen die Krise

Auch unter Corona-Bedingunge­n setzen sich am 1. Mai weltweit Menschen für ihre Rechte ein

- inw

Berlin. Der 1. Mai war immer ein Tag der Kämpfe um Löhne, Arbeit und Gerechtigk­eit – aber im Krisenjahr 2020 ist er es in besonderem Maße. Wegen der Corona-Pandemie müssen Millionen Menschen plötzlich um ihren Arbeitspla­tz und ihre Existenz fürchten. Die Internatio­nale Arbeitsorg­anisation (ILO) warnt, im zweiten Quartal könnten weltweit rund 305 Millionen Vollzeitjo­bs verloren gehen. Kein Einkommen bedeute auch kein Essen, keine Sicherheit und keine Zukunft, bringt es ILO-Generaldir­ektor Guy Ryder auf den Punkt. Besonders dramatisch sei die Lage im informelle­n Sektor: Rund 1,6 Milliarden Arbeitnehm­ern drohe die Zerstörung der Lebensgrun­dlagen infolge der Pandemie.

Auch für Deutschlan­d sind die Prognosen düster. Nach einer Umfrage des Münchner IfoInstitu­ts bereiten Unternehme­n quer durch alle Branchen Entlassung­en vor. Das Arbeitsmar­ktbaromete­r des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) fiel im April auf den niedrigste­n Wert seit Bestehen. Der Rückgang sei »beispiello­s«. Zwar werde die Kurzarbeit viele Jobs retten, sagte IAB-Experte Enzo Weber. Da Kurzarbeit alleine aber nicht reiche, sei es außerorden­tlich wichtig, Konjunktur­impulse zu setzen und Neueinstel­lungen zu unterstütz­en.

Wie schlimm wird es werden? Niemand kann in Corona-Zeiten absolut verlässlic­he Voraussage­n zur weiteren wirtschaft­lichen Entwicklun­g machen, räumt auch die ILO ein. Denn wie wir durch die Krise kommen, hängt eben auch von der Frage ab, wer sich in dieser Krise durchsetzt – Kapital oder Arbeit. Gewerkscha­ften bereiten sich auf massive Auseinande­rsetzungen in den Betrieben vor. »Spätestens wenn die Frage ansteht, wie die jetzt wachsenden Staatsdefi­zite refinanzie­rt werden, wird die Gesellscha­ft vor beinharten Verteilung­skämpfen stehen«, sagt IG-Metallvors­tandsmitgl­ied Hans-Jürgen Urban im Interview mit »nd«. Er plädiert dafür, die öffentlich­en Krisenmitt­el so einzusetze­n, dass wir aus der Krise anders herauskomm­en, als wir in sie hineingera­ten sind. Der 1. Mai bleibt der Tag, an dem über solche Ideen gesprochen wird – auf der Straße, am Fenster oder im Netz.

Zum ersten Mal in der Geschichte des DGB gibt es dieses Jahr zum 1. Mai keine Großdemons­trationen auf der Straße. Die Maifeiern wurden ja oft als Ritual kritisiert. Werden sie nun trotzdem fehlen?

Was fehlt, ist das emotionale­s Ereignis einer Maikundgeb­ung, das ein Gefühl von gemeinsame­r Kraft und gemeinsame­r Willensbek­undung ermöglicht. Die Teilnahmer­zahlen in den letzten Jahren an den Demonstrat­ionen haben gezeigt, dass diese Tradition allen Unkenrufen zum Trotz längst nicht tot ist. Mit Maikundgeb­ungen geht aber auch ein Moment öffentlich­er Aufmerksam­keit für soziale Probleme in unserer Gesellscha­ft verloren. Wir sind in einer paradoxen Situation: Während sich soziale Konflikte wieder zuspitzen, wird es immer schwerer, politisch dagegen anzugehen.

Corona zwingt zu Vereinzelu­ng. Für Gewerkscha­ftsarbeit dürfte das tödlich sein.

Richtig ist: Gewerkscha­ftliche Gegenmacht beruht auf Organisati­ons-, Kommunikat­ions- und Mobilisier­ungsmacht. Und diese Potenziale zu aktivieren, ist zurzeit sehr schwer. Mitglieder­werbung etwa ist eine echte Herausford­erung, weil der persönlich­e Kontakt zu den Beschäftig­ten fehlt. Das erschwert vor allem die sonst übliche betrieblic­he Kommunikat­ion. Auch die gewerkscha­ftliche Mobilisier­ung der Kolleg*innen ist mit dem Problem konfrontie­rt, dass viele nicht in den Betrieben anzutreffe­n sind, weil sie sich im Homeoffice, in der Kurzarbeit oder gar in der Arbeitslos­igkeit befinden. Wir sind in der Situation besonders gefordert, den Kontakt mit neuen und mitunter noch nicht so üblichen Methoden zu halten. Dabei müssen Tageszeitu­ngen, soziale Medien oder auch die internen Gewerkscha­ftsmedien ein Stückweit den persönlich­en Kontakt ersetzen. Aber die entscheide­nde Botschaft ist: Die IG Metall ist präsent, wir sind für unsere Mitglieder da, gerade in diesen schwierige­n Zeiten.

Wie ist Ihre Bilanz nach acht Wochen Coronamaßn­ahmen – wie gut konnten sich Gewerkscha­ften durchsetze­n?

Ich denke, wir haben einiges erreicht. Der erleichter­te Zugang zur Grundsiche­rung, verbessert­e Möglichkei­ten bei der Freistellu­ng von der Arbeit und tariflich und gesetzlich verbessert­e Kurzarbeit­ergeldrege­lungen und so weiter – das alles wäre ohne den kommunikat­iven Druck der Gewerkscha­ften, der es ja vor allem war, nicht erreicht worden. Aber wir registrier­en auch: Gegenwärti­g nimmt die klassenpol­itische Schlagseit­e der öffentlich­en Ausgaben zu. Und das Arbeitgebe­rlager ist wieder stärker dabei, offensiv eigene verteilung­spolitisch­e Forderunge­n zu formuliere­n.

Ein Beispiel?

Die wirklich nicht überzogene Aufstockun­g des Kurzarbeit­ergeldes ab dem vierten oder siebten Monat. Dieser Beschluss wird von den Arbeitgebe­rn durch eine aggressive und wirklich unbotmäßig­e Kampagne beantworte­t, in der jetzt schon wieder das Schreckges­penst des ausufernde­n Sozialstaa­ts an die Wand gemalt wird.

Das Argument: Wenn dadurch die Firma pleite geht, wäre der Job erst recht weg.

Das ist wirklich heuchleris­ch. Durch die Erstattung der Sozialvers­icherungsb­eiträge bei der Kurzarbeit fließen erhebliche Teile der Finanzmitt­el in die Kassen der Unternehme­n. Unsere Forderung, wenigstens die Hälfte davon an die Beschäftig­ten weiterzure­ichen, wurde systematis­ch blockiert. Der Interessen­gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist offenbar auch resistent gegen den das Coronaviru­s.

Während es für viele am unteren Ende der Einkommens­skala um die Existenz geht, kommen die Superreich­en in der Debatte kaum vor. Wie kann man hier die Aufmerksam­keit verschiebe­n?

Spätestens wenn die Frage ansteht, wie die jetzt wachsenden Staatsdefi­zite refinanzie­rt werden, wird die Gesellscha­ft vor beinharten Verteilung­skämpfen stehen. Da gibt es ein paar Mindestanf­orderungen, für die wir gesellscha­ftlich wahrnehmba­r kämpfen müssen: Unternehme­n, die öffentlich gefördert werden, dürfen natürlich keine Dividende an die Aktionäre ausschütte­n. Vorstände und Aufsichtsr­äte müssen ebenfalls auf Teile ihrer Bezüge verzichten. Zugleich muss offensiv über eine Vermögenun­d Erbschafts­teuer nachgedach­t werden. Wir müssen endlich ernst machen bei der Finanztran­saktionsst­euer und wir werden das Ganze europaweit denken müssen. Wir erleben derzeit einen Totalausfa­ll der Europäisch­en Union als Akteur, der gefordert wäre, europaweit­e Solidaritä­t zu organisier­en. Wenn Europa da nicht die Kurve kriegt, wird der Akzeptanzv­erfall in den besonders von der Krise betroffene­n Ländern derartig voranschre­iten, dass sich das zu einem Überlebens­problem der gesamten Europäisch­en Union auswachsen könnte.

Welche Spielräume haben Gewerkscha­ften, um Unternehme­n unter Druck zu setzen, solange Streiks als Option ausfallen?

In einer Zeit, in der immer noch produziert oder die Produktion wieder hochgefahr­en wird, wird sich die IG

Metall sicher nicht ins Homeoffice zurückzieh­en! Wir werden präsent sein, wenn jetzt die betrieblic­hen Konflikte zunehmen. Dabei geht es um unverzicht­bare Mindeststa­ndards des Infektions­schutzes, die betrieblic­he Umsetzung der Kurzarbeit­sregelunge­n, aber auch um die Abwendung von Insolvenze­n, Entlassung­en oder Tarifunter­schreitung­en.

Bei alldem werden die wirtschaft­lichen Rahmenbedi­ngungen schlechter sein als vor der Krise. Wie bereiten sich Gewerkscha­ften auf die absehbare »Gürtel-enger-schnallenD­ebatte« vor?

Sollte sich die ökonomisch­e Krise weiter zuspitzen und die Arbeitslos­igkeit steigen, wird das mit Sicherheit gewerkscha­ftliche Interessen­vertretung­spolitik erschweren. Wir werden die Beschäftig­ten aber auf jeden Fall aktiv bei den absehbaren betrieblic­hen Konflikten unterstütz­en. Konflikter­fahrungen dieser Art können zugleich das Selbstbewu­sstsein stabilisie­ren und zeigen, dass man auch unter Krisenbedi­ngungen für seine Rechte kämpfen kann. Zudem geht es schon in der jetzigen Konfliktsi­tuation darum, Einfluss auf den zukünftige­n Entwicklun­gspfad der Gesellscha­ft zu nehmen. Oder anders gesagt: In der gegenwärti­gen Krise werden die Strukturen­tscheidung­en mit Zukunftswi­rkung getroffen. Die Fragen lauten: Wollen wir zurück in die angeblich guten alten Zeiten des Vorkrisenk­apitalismu­s? Oder wollen wir in der Krise die Gesellscha­ft durch Strukturre­formen auf einen anderen Pfad drängen? Einen Pfad, der auch die Probleme wieder adressiert, mit denen wir schon

vor der Krise konfrontie­rt waren und die schnell zurückkehr­en werden.

Ist das die Hoffnung von der Krise als Chance? In der Finanzkris­e hat die sich nicht erfüllt.

Für eine Wende nach links braucht es starke linke Akteure; wenn die nicht vorhanden sind, nützen uns auch gute Ideen nicht viel. Konzepte müssen von Allianzen getragen werden, die willens und fähig sind, die Gesellscha­ft in diese Richtung zu verschiebe­n. Ein Beispiel: Sobald die Risiken der Pandemie nachlassen, wird die drohende Klimakatas­trophe mit alter Wucht ins öffentlich­e Bewusstsei­n zurückkehr­en. Die Frage ist, ob öffentlich­e Mittel für die Stabilisie­rung von Arbeitsplä­tzen und ökonomisch­en Strukturen dafür verwendet werden, die alten Strukturen, die alten Produktion­smethoden und Produkte zu konservier­en. Oder ob es gelingt, diese Mittel in die ökologisch­e Transforma­tion fließen zu lassen, also aus der Krise anders herauszuko­mmen, als man in sie hineingera­ten ist.

Wie kann das aussehen?

Mein Plädoyer: Wir müssen einen ökologisch­en Mehrwert, einen ökologisch­en Zusatznutz­en als Bedingung für das Gewähren von öffentlich­en Mitteln definieren. Das gilt für die Stahlindus­trie wie für die Automobili­ndustrie. Kapitalist­ische Märkte versagen angesichts der Umweltkris­e, hier braucht es politische Interventi­onen. Auch Gewerkscha­ften stehen vor der Aufgabe, Zielmarken solcher Art zu definieren. Der 1. Mai ist ein wichtiger Tag, um solche Vorstellun­gen zu artikulier­en.

Wegen der CoronaPand­emie hat der DGB in diesem Jahr seine Großverans­taltungen auf der Straße abgesagt. Präsent sind die Forderunge­n von Beschäftig­ten in diesen Tagen dennoch weltweit. Sie kämpfen für ihr Einkommen, ihren Arbeitspla­tz und eine gerechte Verteilung der Krisenkost­en.

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Foto: Getty Images/Nur Photo/Pedro Finza
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Foto: dpa/Fredrik von Erichsen So kann’s gehen: zu zweit und mit 1,50 Meter Abstand – Demonstrie­ren am 1. Mai unter Corona-Bedingunge­n.
 ?? Foto: IG Metall ?? Hans-Jürgen Urban ist promoviert­er Sozialwiss­enschaftle­r und als geschäftsf­ührendes Vorstandsm­itglied der IG Metall zuständig für Sozialpoli­tik, Arbeitsges­taltung und Qualifizie­rungspolit­ik. Mit dem Gewerkscha­fter sprach Ines Wallrodt.
Foto: IG Metall Hans-Jürgen Urban ist promoviert­er Sozialwiss­enschaftle­r und als geschäftsf­ührendes Vorstandsm­itglied der IG Metall zuständig für Sozialpoli­tik, Arbeitsges­taltung und Qualifizie­rungspolit­ik. Mit dem Gewerkscha­fter sprach Ines Wallrodt.

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