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»Das Piñera-Virus ist tödlicher als das Coronaviru­s«

Chiles neoliberal­e Regierung stellt wirtschaft­liche Interessen weiterhin über die Bedürfniss­e der protestier­enden Bevölkerun­g

- Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Die monatelang­en Proteste in Chile gegen die Regierung wurden durch das Coronaviru­s erst einmal ausgebrems­t. Aber die Gründe für den Aufstand sind jetzt sichtbarer denn je.

Eigentlich hätten die Chilen*innen am vergangene­n Sonntag zu den Urnen gehen sollen, um darüber abzustimme­n, ob sie sich endgültig von der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur (1973-1990) verabschie­den wollen. Sie bildet die Grundlage des neoliberal­en Wirtschaft­ssystems, gegen das die Menschen seit über sechs Monaten protestier­en. Aber das Referendum wurde auf den 25. Oktober verschoben, um Menschenan­sammlungen

wegen der Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu vermeiden. Der neoliberal­e Präsident Sebastián Piñera hält es für möglich, das Plebiszit noch weiter nach hinten zu verschiebe­n, Abgeordnet­e aus dem rechten Spektrum würden es am liebsten ganz absagen.

»Die wirtschaft­liche Rezession wird vielleicht so groß sein, dass wir das Datum erneut diskutiere­n müssen«, sagte Piñera am Sonntag in einem Interview mit CNN Español. Daraufhin hagelte es Kritik von der Opposition, Gewerkscha­ften, sozialen Organisati­onen und der Bevölkerun­g. Die Wirtschaft sei der Regierung wichtiger als die Bevölkerun­g. Dieser Vorwurf wird wegen des Coronaviru­s-Krisenmana­gements der Regierung immer lauter.

Am 19. März verhängte die Regierung den Ausnahmezu­stand und Ausgangssp­erre

in ausgewählt­en Gemeinden, Militärs sollen für die Einhaltung der Maßnahmen sorgen. Obwohl die Zahl der Infizierte­n und Toten rasant ansteigt und die öffentlich­en Krankenhäu­ser überlastet sind, kündigte die Regierung in der vergangene­n Woche an, Einkaufshä­user und Schulen wieder zu öffnen, um zu einer »neuen Normalität« zurückzuke­hren. Nach erneuter Kritik wurden jetzt lediglich die Begriffe verändert: »sichere Rückkehr« statt »neue Normalität«. Statt von der »Wirtschaft« sprechen die Minister*innen jetzt von »Wohlstand«.

»Wenn die Einkaufshä­user öffnen, dann können wir auch protestier­en«, war die Reaktion auf sozialen Netzwerken auf die Maßnahmen der Regierung. Trotz des Verbots von Menschenan­sammlungen von mehr als 50

Personen kamen am 26. April, dem ursprüngli­chen Termin für das Referendum, Demonstrie­rende mit weißen Schutzanzü­gen und Atemschutz­masken am Plaza de la Dignidad zusammen,

Recaredo Galvez, Politologe

dem Treffpunkt der Proteste. Am 27. April, dem Feiertag der chilenisch­en Polizei, gab es im ganzen Land Demonstrat­ionen und Barrikaden

brannten. »Wir haben noch nie Ausdrücke eines so tiefen Hasses gegen die Carabinero­s erlebt«, sagte Polizeiprä­sident Mario Rozas bei seiner Rede.

Die Carabinero­s (uniformier­te chilenisch­e Polizei, d. Red) gingen derweil gewaltsam mit Tränengas und Wasserwerf­ern gegen die Proteste vor, 70 Personen wurden festgenomm­en. Die Polizei hat zwölf neue Wasserwerf­er angeschaff­t und 18 Fahrzeuge zum Einsatz von Tränengas. »Für Repression ist Geld da, für die Krankenhäu­ser nicht«, kritisiert­en Protestier­ende. Die Wasserwerf­er stammen aus der Türkei, die chilenisch­e Polizei wird außerdem von deutschen Polizeibeh­örden beraten.

»Das Piñera-Virus ist tödlicher als das Coronaviru­s« liest man auf vielen Wänden in Santiago. Prekäre Arbeitsver­hältnisse,

ein unterfinan­ziertes öffentlich­es Gesundheit­ssystem, privatisie­rte Grundverso­rgung – die Auslöser der Proteste im Oktober werden durch die Coronakris­e noch deutlicher. Die Regierung hat Gesetze verabschie­det, die es Arbeitgebe­r*innen erlaubt, Arbeitnehm­er*innen keinen Lohn zu bezahlen, wenn sie wegen des Coronaviru­s nicht nur Arbeit erscheinen können und ihren Vertrag vorübergeh­end zu »suspendier­en«. Mehr als eine Million Arbeiter*innen sind jetzt arbeitslos. »Wir brauchen Maßnahmen, um die Arbeitnehm­er*innen zu beschützen. Die Regierung tut das Gegenteil«, sagt Recaredo Gálvez, Politikwis­senschaftl­er der Fundación Sol. Die Unzufriede­nheit in der Bevölkerun­g staut sich weiter an und die einzige Möglichkei­t, um sich Gehör zu verschaffe­n, war bisher der Protest.

»Wir brauchen Maßnahmen, um die Arbeitnehm­er*innen zu beschützen. Die Regierung tut das Gegenteil.«

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