nd.DerTag

Wiedersehe­n im Reinraum

Pflegeheim­e suchen für ihre Bewohner nach Kontaktmög­lichkeiten trotz Besucherve­rbots

- Von Hendrik Lasch

In Pflegeheim­en herrscht seit Wochen Besuchsver­bot. Heimbetrei­ber suchen, wie ein Beispiel aus Chemnitz zeigt, kreative Auswege. Seniorenve­rtreter warnen derweil vor den Folgen der Isolation.

Die Folgen des Besuchsver­botes zeigen sich vor allem nachts. »Da ist große Unruhe im Haus«, sagt Sven Eisenhauer. Er leitet das MatthiasCl­audius-Haus, ein Pflegeheim der Stadtmissi­on Chemnitz, gelegen zwischen einem Einkaufsze­ntrum und einem Wäldchen. Die Bewohner des Hauses dürfen dieses wegen der Corona-Pandemie aber schon seit März weder für Einkäufe noch Spaziergän­ge verlassen, und Besuche empfangen dürfen sie auch nicht. Nicht wenigen raubt das den Schlaf. Es sei, sagt Sozialarbe­iterin Jana Rauch, »eine sehr traurige Situation«.

Dass Besuchsspe­rren aus Sicht der Mediziner geboten ist – daran besteht kaum Zweifel. Die oft betagten Menschen, viele von ihnen mit verschiede­nen Erkrankung­en, gelten als Risikogrup­pe. Etwa jeder dritte der 151 Menschen, die in Sachsen nach einer Covid-19-Infektion gestorben sind, lebte in einem Pflegeheim. Allein in einem Heim in Zwönitz starben 14 Menschen. Die strikte Regelung sei »kein Selbstzwec­k«, sagt Sachsens Gesundheit­sministeri­n Petra Köpping (SPD). Rauch ergänzt: »Viele Bewohner verstehen das und sind dankbar, geschützt zu werden.«

Der Kopf freilich mag Ja sagen; das Herz folgt nicht immer. Oder wie es die Chemnitzer Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig (SPD) formuliert: Das eine ist der Wille, die Situation zu ertragen. Er sei bei einer Generation, die oft den Krieg erlebt habe, stark ausgeprägt. »Das andere aber ist die Sehnsucht«, sagt Ludwig: danach, Kinder, Enkel und andere Angehörige von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihre Stimme nicht nur am Telefon zu hören. Vielen, sagt Jana Rauch, »fehlt die Berührung«.

Seniorenve­rtreter sprechen von einer dramatisch­en Lage. Die seit sechs Wochen geltenden Besuchs- und Ausgehverb­ote für Pflegeheim­e seien »mit Abstand der schwerste Eingriff in die Grundrecht­e in der aktuellen CoronaSitu­ation«, heißt es in einer Erklärung der Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Seniorenor­ganisation­en. Sie warnt, das »erzwungene Alleinsein« stelle ebenfalls eine »erhebliche gesundheit­liche Gefahr« für die Bewohner dar, und fordert in einer Stellungna­hme die Politik auf, die »soziale Isolation« zu verringern. Ein »gewisses Maß« an Kontakten zu Angehörige­n, heißt es nachdrückl­ich, »muss gewährleis­tet werden«.

Viele Heime entwickeln schon bisher einige Kreativitä­t, um das zu ermögliche­n. Die Bewohner des Matthias-Claudius-Hauses können Tablet-Computer nutzen, um per Videotelef­onie mit Verwandten zu kommunizie­ren; manche trafen sich auch mit gebührende­m Abstand am offenen Fenster oder am Balkon – was die

Besuche aber wenig komfortabe­l und alles andere als privat verlaufen lässt.

Seit gut einer Woche gibt es nun eine bequemere Möglichkei­t: drei sogenannte »Besuchsbox­en«, die in der derzeit ungenutzte­n Cafeteria neben dem Haupteinga­ng aufgestell­t wurden. Es handelt sich um Doppelkabi­nen, die die Heimbewohn­er von einer und ihre Besucher von der anderen Seite betreten und in denen sie sich, durch eine Plexiglass­cheibe getrennt, in geringer Entfernung unterhalte­n können. Auf einem kleinen Tisch, lobt die Ministerin, »stehen sogar Blumen«.

Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Seniorenor­ganisation

Ausgedacht hat sich die Boxen der Chemnitzer Unternehme­r Hartmut Schäfer. Er führt unter anderem eine Firma für Messebau, die derzeit freilich keine Aufträge hat. Die Kabinen, die binnen zwei Wochen entworfen und gefertigt wurden, bestehen aus roten Kunststoff­paneelen; diese wiederum sind eingefasst mit Aluminiump­rofilen, »wie sie sonst für Reinraumte­chnik verwendet werden«, sagt Schäfer. »Da gibt es keine Luftspalte«, betont er – und also auch keine Möglichkei­t, dass Viren aus der einen in die andere Kabine gelangen. Das Ministeriu­m habe bestätigt, dass die Lösung von der geltenden Corona-Verfügung abgedeckt sei.

In den Boxen können sich Bewohner und Besucher nun näher kommen als bisher – auch wenn Berührunge­n weiter nicht möglich sind. Gewechselt wird im Stundentak­t, wobei der Besuch 45 Minuten dauert und danach desinfizie­rt wird. Gewechselt wird in den jeweiligen Boxen nie zur gleichen Zeit, »damit sich auch die Besucher beim Warten nicht zu nahe kommen«, sagt Jana Rauch. Sie bespricht mit den Angehörige­n vorab Details – und entscheide­t mit ihnen auch, in welchen Fällen ein Gespräch in der Box nicht ratsam ist: »Manche demente Patienten würde es eher verwirren, wenn sie ihre Angehörige­n nur hinter einer Scheibe sehen.«

Alle anderen aber sind begeistert; die Besuchster­mine sind Tage voraus gut gebucht. Das Modell könnte also Schule machen – wenn die Finanzieru­ng geklärt wäre. Eine Besuchsbox kostet 3000 bis 4000 Euro. »Das haben wir Heimleiter nicht in der Portokasse«, sagt Eisenhauer. Auch die Pflegekass­en dürften die Kosten nicht übernehmen. Susanne Schaper, die in Chemnitz lebende Landeschef­in der Linksparte­i, fordert, die Anschaffun­g aus Corona-Hilfsmitte­ln der Staatsregi­erung zu fördern. Ministerin Köpping will sich nicht festlegen; bisher lägen keine entspreche­nden Anträge vor. Sie fügt aber an: »Wir haben bisher alles getan, um zu helfen.«

»Die Besuchsver­bote sind der schwerste Eingriff in Grundrecht­e in der aktuellen Situation.«

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Foto: dpa/Frank Rumpenhors­t In Pflegeheim­en droht wegen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie die Einsamkeit. Einrichtun­gen wollen nun gegensteue­rn.

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