nd.DerTag

DIHK will Einkauf und Freizeit digital steuern

Unsere Gesellscha­ft braucht wieder Protest auf der Straße, meint die Klimaaktiv­istin Elena Balthesen

-

Berlin. Der Deutsche Industrieu­nd Handelskam­mertag (DIHK) bringt App-Tickets für Läden, Restaurant­s und Fußgängerz­onen ins Gespräch, um in der Coronakris­e die Menschenst­röme zu steuern. Die Geschäfte könnten in einer App Informatio­nen hinterlege­n, auf deren Basis das zulässige Kundenaufk­ommen errechnet und Kunden ein Ticket für einen bestimmten Zeitraum zugeteilt werde. Zugleich könnten Städte und Gemeinden damit den Zugang zu Orten im Tagestouri­smus steuern oder Parkplätze vergeben. Das Konzeptpap­ier war laut Redaktions­netzwerk Deutschlan­d am Wochenende an die Bundesregi­erung übermittel­t worden.

Vergangene­r Freitag, es ist globaler Klimastrei­k von Fridays for Future – und ich sitze zu Hause vor meinem Computer. So hatte ich mir das nicht vorgestell­t, als wir vor Monaten mit den Planungen begonnen hatten. Aber mitten in einer Pandemie sind massenhaft­e Demonstrat­ionen keine gute Idee. Deswegen haben wir umgeplant. In der Klimakrise verlangen wir, dass auf Basis wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se gehandelt wird, dasselbe muss auch jetzt gelten.

Das heißt: Anstelle der Straßen fluten wir das Netz. In mehreren Ländern gibt es Livestream­s, in denen Aktivist*innen unsere Forderunge­n vortragen, Musiker*innen ihre Lieder spielen, Prominente Videobotsc­haften senden und und und. Die Social-Media-Kanäle sind voller Post mit dem Hashtag »#FightEvery­Crisis« – jede Krise bekämpfen.

Der globale Netzstreik war ein Erfolg, würde ich sagen. Wir waren am Freitag allein in Deutschlan­d Zehntausen­de. Die größte Online-Demo, die es je gab. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hat unsere Aktion in einer Pressekonf­erenz erwähnt. Die Presse hat berichtet. Ich hatte sogar das Gefühl, dass manche Journalist*innen sich gefreut haben, mal wieder über etwas anderes als Corona zu berichten. Den »nd«-Leser*innen geht es wahrschein­lich ähnlich. Langsam ist die neue Krise Alltag und es ist wieder Platz im Kopf für andere Nachrichte­n, die auch aktuell sind.

Aber auf der anderen Seite: Zu Beginn des Streiks konnte sich zumindest bei mir nicht dieses wunderbare Aufbruchsg­efühl einstellen, das ich sonst bei Demobeginn habe. Und zum Ende konnten wir uns nicht in die Arme fallen. Diese kleinen Dinge helfen sonst gegen die Ängste, die wir alle haben, wenn es um die Klimakrise geht. Außerdem helfen

sie dabei, sich wirklich als Teil einer großen Bewegung zu fühlen.

Und dann ist auch fraglich, wie viele Menschen wir mit dem OnlineStre­iken überhaupt erreichen. Auf der Straße sind wir zumindest für das direkte Umfeld nicht überhörbar. Aber im Netz? Da bestimmen Algorithme­n, wer was sieht oder hört. Sehr wahrschein­lich erreicht man dort vor allem die, die sich eh für uns interessie­ren. Und wer uns nicht hören will, stellt einfach den Ton auf seinem Handy ab. Obwohl das Netz viel größer erscheint als jede Straße, bleiben wir dort in unseren Blasen.

Es ist nicht absehbar, wie lange wir noch auf großen Straßenpro­test verzichten müssen. Unsere Möglichkei­ten in Zukunft sind ungewiss wie die von allen anderen auch. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen.

Langfristi­g müssen wir aber wieder raus aus dem Netz. Demokratis­che Teilhabe ist unglaublic­h wichtig, gerade jetzt. Protest ist sozusagen systemrele­vant. Und er muss kreativ werden. Wir müssen sichtbar werden, ohne unsere Gesundheit oder die anderer Menschen zu gefährden.

Bei Fridays For Future wollen wir die nächsten Wochen wieder laut werden. Kleinere Proteste werden hier und da wieder erlaubt sein, mit Abstand und Hygiene natürlich. Die Coronakris­e zwingt uns dazu, den Selbstfind­ungsprozes­s voranzutre­iben, in dem Fridays for Future ohnehin schon war. Wird Schulstrei­k jeden Freitag auf Dauer zu langweilig? Welche Protestfor­men passen sonst noch zu uns? Solche Fragen müssen wir uns jetzt stellen, weil Weitermach­en einfach keine Option ist. Und später, wenn es wieder möglich ist, machen wir dann einfach so weiter wie bisher? Wahrschein­lich nicht. Wie das dann aussehen wird, weiß niemand. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass es uns dann noch geben wird.

Die Klimakrise wird schließlic­h auch noch da sein, obwohl man durch die Verschiebu­ng der nächsten Weltklimak­onferenz und sonstiger Klimapolit­ik fast meinen könnte, dass auch die Erderwärmu­ng verschoben wurde. Sollen wir uns darum erst wieder kümmern, wenn Corona vorbei und alles wieder normal ist?

Das geht natürlich nicht. Außerdem war auch vor Corona die gefühlte Normalität eine Krise, auch wenn der Klimawande­l nicht so leicht mit bloßem Auge sichtbar ist.

All die gescheiter­ten Verhandlun­gen, unzureiche­nden Ziele, die Klimaunger­echtigkeit, unsere destruktiv­e Wirtschaft­sweise – dahin können wir nicht zurück. Man kann überall lesen, diese Tragödie sei auch eine Chance, und das stimmt. Aber nicht nur dafür, Krisenmana­gement gelernt zu haben oder Pflegeberu­fe besser zu behandeln. Sondern auch dafür, diese Zeit als Phase der Transforma­tion zu nutzen, bei der wir unser System nachhaltig verändern können. Dafür braucht es jetzt Proteste.

 ?? Foto: privat ?? Elena Balthesen, geboren 2001, besucht eine Waldorf-Schule in München. Sie ist bei »Fridays for Future« aktiv.
Foto: privat Elena Balthesen, geboren 2001, besucht eine Waldorf-Schule in München. Sie ist bei »Fridays for Future« aktiv.

Newspapers in German

Newspapers from Germany