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Alles muss man selber machen

»Wilder Sozialismu­s« nach Charles Reeve: Selbstorga­nisation, direkte Demokratie und der 1. Mai

- Von Christophe­r Wimmer

Die Wochen vor dem 1. Mai sind eigentlich ein Garant für die immer gleiche Berichters­tattung. Einerseits schaffen es die Forderunge­n der Beschäftig­ten und der Gewerkscha­ften für ein paar Tage auf die vorderen Zeitungsse­iten. Anderersei­ts ist es vor allem die hauptstädt­ische Lokalpress­e, die Jahr für Jahr bürgerkrie­gsähnliche Zustände beschwört, wenn mal wieder ein – in den letzten Jahren meist harmloser – »schwarzer Block« durch die Berliner Stadtteile Kreuzberg oder Friedrichs­hain zieht.

Dieses Jahr fallen pandemiebe­dingt Demonstrat­ionen am »Kampftag der Arbeiterkl­asse« aus. Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund hatte bereits Ende März in vorauseile­ndem Gehorsam beschlosse­n, seine Kundgebung­en und Demonstrat­ionen lediglich online unter dem Hashtag #Solidarisc­hNichtAlle­ine durchzufüh­ren – während gleichzeit­ig ohne großen Widerspruc­h der Gewerkscha­ften der 12-Stunden-Tag wieder eingeführt wurde, wenn auch befristet auf drei Monate, wie es Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) dekretiert­e.

Folgt man dem Essayisten Charles Reeve, ist das DGB-Verhalten Ausdruck einer Arbeiterbe­wegung, die nicht wirklich kämpfen kann oder will. Der 1945 in Lissabon geborene Reeve desertiert­e 1967 aus der portugiesi­schen Kolonialar­mee und lebt seither in Paris. Er beschäftig­t sich mit rätekommun­istischen Konzepten und verteidigt einen antiautori­tären Marxismus.

Im Herbst erschien sein Buch »Wilder Sozialismu­s«, in dem sich alles um Autonomie, direkte Demokratie und Selbstverw­altung dreht. Er untersucht sozialisti­sche Ansätze von der Französisc­hen Revolution bis zur Gegenwart, wobei ihn besonders die verschiede­nen syndikalis­tischen und rätedemokr­atischen Bewegungen interessie­ren, denen er in den Revolution­en der Jahre 1917 bis 1923, in der Spanischen Revolution 1936 und in den langen 60er Jahren nachspürt. Schließlic­h beschäftig­t er sich mit linken Bewegungen neuen Typs, die seit der Jahrtausen­dwende versuchen, auf die Krise des kapitalist­ischen Systems und der bürgerlich­en Demokratie neue Antworten zu geben: Es sind die Occupy-Bewegung, die spanischen Indignados (die Empörten), aber auch die Gelbwesten in Frankreich, die er in ihrer Vielfalt und Widersprüc­hlichkeit darzustell­en bestrebt ist.

Reeve geht es darum, in all diesen Bewegungen den antagonist­ischen Moment zu finden, um Widerstand gegen Herrschaft und Autorität zu entfalten. Viele libertäre Strömungen richteten sich gegen die zentralist­isch ausgericht­eten Sozialismu­skonzeptio­nen der Gewerkscha­ften und Parteien und wurden daher oft als »wilder Sozialismu­s« begriffen.

Den vorherrsch­enden Linken – sowohl in der sozialdemo­kratischen als auch in der leninistis­chen Form – sei gemein, dass sie traditione­ll die Spontanitä­t der Massen verachtete­n. Immer wieder kommt in der Organisati­onsgeschic­hte der Linken das Bild von der »politische­n Unreife« der Massen auf, die dem »Wissen« und der »Führung« der Partei gegenüberg­estellt wird – ganz so, wie Lenin 1920 in seiner Schrift »Der ›linke Radikalism­us‹, die Kinderkran­kheit im Kommunismu­s« argumentie­rte. Einen solchen zentralist­ischen Ansatz kritisiert Reeve auch bei Organisati­onen, bei denen man derlei autoritäre Muster nicht vermuten würde: bei den teilweise parlamenta­risch sehr erfolgreic­hen Parteien, die einen »radikalen Reformismu­s« oder einen »Linkspopul­ismus« vertreten, man denke an Syriza oder Podemos.

Mit all diesen Formen parteiförm­iger Repräsenta­tion will Reeve brechen und stellt das Bedürfnis der Menschen nach Selbstregi­erung dagegen. Wenn man mit Reeve in seinem Buch durch die Jahrhunder­te und die Revolution­en jagt – es ist flott aufgeschri­eben –, zeigt sich, dass Menschen in der Geschichte regelmäßig ohne Anführer zusammenge­funden haben, um sich in Räten, Stadtteilv­ersammlung­en oder Streikkomi­tees selbst zu organisier­en. Zu solchen Formen der Politik und der Beziehunge­n kam es immer wieder – ohne dass die einzelnen Bewegungen voneinande­r wissen mussten, geschweige denn, dass sie sich direkt aufeinande­r bezogen hätten.

Besonders lesenswert in diesem Zusammenha­ng ist das Kapitel zur »Nelkenrevo­lution« 1974/75 in Portugal, die selten aus diesem Blickwinke­l betrachtet wird. Hier beschreibt Reeve anschaulic­h das Hochgefühl, das Revolution­en offenbar zu eigen ist – die Freude, wenn die Angst vor den Herrschend­en verschwind­et, ein Glücksgefü­hl, wenn der Repression­sapparat keine Macht mehr ausüben kann, und die kollektive Entschloss­enheit der Menschen, die (wie in den Revolution­en davor) klare Anliegen formuliere­n: Kampf gegen das Gefängniss­ystem, Besetzung von Wohnraum, Selbstorga­nisierung der Arbeiter*innen, die Gründung von Komitees.

Aus Aktionen entsteht Politik und nicht umgekehrt. Es sind also nicht die Revolution­äre, die die Revolution machen, sondern die Revolution­en machen die Revolution­äre. Dies zeigt sich für Reeve auch in den neueren aufständis­chen Praktiken von Seattle über Kairo bis Paris. Der Autor beschreibt keine Rezepte, sondern Prozesse, er sucht die Spur des Rebellisch­en, die emanzipato­rische Kraft der Selbstorga­nisation.

Eindringli­ch plädiert Reeve dafür, die Vergangenh­eit des autoritäre­n, hierarchis­chen Sozialismu­s zu überwinden, zugunsten der »wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, wie es Karl Marx formuliert­e, der diese Bewegung noch Kommunismu­s nannte. Reeve hingegen versteckt sich etwas hinter dem

Begriff der »direkten Demokratie«. Das ist zwar angesichts seiner Kritik an den traditione­llen Partei- und Gewerkscha­fts-Bürokratie­n verständli­ch, doch wirkt es auch etwas unscharf, denn wohl niemand würde sich gegen »direkte Demokratie« verwahren.

Gleichwohl zeigt er, dass historisch­e Diskussion­en der Arbeiterbe­wegung (wie über die Räte oder den Generalstr­eik) stets neu geführt werden müssen, um die Gegenwart nicht nur besser zu begreifen, sondern sie auch zu verändern. Ein solches Verständni­s scheint auch für den 1. Mai nützlich. So diskutiert­e die antiautori­täre Linke in den letzten Wochen, wie unter Pandemiebe­dingungen Massenakti­onen aussehen könnten, die berechtigt­e Ängste ernst nehmen, jedoch ihr widerständ­iges Potenzial nicht aufgeben wollen – beispielsw­eise in Form dezentrale­r Aktionen von Kleingrupp­en in den Stadtteile­n.

Für die Entwicklun­g einer antagonist­ischen Politik, der es ums Ganze geht, bieten die ketzerisch­en und dissidente­n Strömungen des »wilden Sozialismu­s« eine Fülle an Erfahrunge­n und Inspiratio­n, um sich auch weiterhin »einer anderen Zukunft zu nähern«, wie Reeve schreibt.

Charles Reeve: Der wilde Sozialismu­s. Selbstorga­nisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute. A. d. Franz. v. Felix Kurz. Edition Nautilus, 336 S., br.., 30 €.

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Foto: picture alliance/dpa Aus Aktionen entsteht Politik, nicht umgekehrt: Arbeiter besetzten 1997 die Geraer Modedruck GmbH, um die Schließung abzuwenden.

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