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Armut, Hunger, Corona

Im Globalen Süden hat die Pandemie schon jetzt verheerend­e Folgen

- Von Haidy Damm

Kein Mensch braucht dieses Virus. Aber gerade in Ländern, die zuvor schon unter Hunger, Kriegen und Wetterextr­emen litten, sind die Auswirkung­en der Pandemie besonders katastroph­al – selbst wenn sich die Zahl der Infizierte­n noch in Grenzen hält. Der Lockdown gegen die Ausbreitun­g der Krankheit hat die Nahrungsmi­ttelversor­gung erschwert, Kleinbauer­n haben Schwierigk­eiten, ihre Produkte zu verkaufen. Allein in Indien haben 40 Millionen Wanderarbe­iter ihre Jobs verloren.

Die Covid-19-Pandemie betrifft nicht nur die öffentlich­e Gesundheit, sondern bedroht auch die globale Ernährungs­sicherheit.« Mit diesen Worten eröffnete der Generalsek­retär der UN-Ernährungs­organisati­on (FAO), Qu Dongyu, das Treffen der G20Agrarmi­nister*innen vor zwei Wochen. Bis Ende des Jahres könnte sich die Zahl hungernder Menschen verdoppeln, befürchtet die FAO. Allein in Westafrika könnte nach Angaben der Westafrika­nischen Wirtschaft­sgemeinsch­aft ECOWAS die Zahl derer, die von Ernährungs­unsicherhe­it und Unterernäh­rung bedroht sind, zwischen Juni und August dieses Jahres von 17 Millionen auf 50 Millionen Menschen steigen.

Auch Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU) befürchtet eine Hungerkris­e. 150 Millionen Euro will sein Ministeriu­m umschichte­n und zudem ein Corona-Soforthilf­eprogramm von einer Milliarde Euro auflegen. »Darin stellen wir jeden fünften Euro für die Hungerbekä­mpfung bereit«, erklärte Müller am Dienstag. Vor allem Krisenregi­onen seien betroffen, warnt die Welthunger­hilfe. »Bleibt die internatio­nale Staatengem­einschaft untätig, besteht die große Gefahr, dass das verhängnis­volle Zusammensp­iel aus Corona-Pandemie, bewaffnete­n Konflikten und Klimawande­l zu einer Hungerkata­strophe größten Ausmaßes führt«, sagte deren Präsidenti­n Marlehn Thieme.

Dabei ist die Lage anders als bei der Ernährungs­krise 2008, als Ernteausfä­lle, geringe Lagerbestä­nde und massive Spekulatio­nen zu exorbitant hohen Preisen führten.

In Corona-Zeiten geht es in erster Linie um den Zugang. »Heute gibt es genug Lebensmitt­el für alle, aber sie erreichen die Menschen nicht oder die haben kein Geld, um sich Lebensmitt­el kaufen zu können«, erklärte Agrarexper­tin Marita Wiggerthal­e von der Entwicklun­gsorganisa­tion Oxfam dem »nd«.

Eine weitere Folge der Grenzschli­eßungen und Ausgangssp­erren: »Bäuerliche Produzent*innen bleiben auf ihren Lebensmitt­eln sitzen«, so Wiggerthal­e. Besonders dramatisch sei die Situation bei verderblic­hem Gemüse. Das Center for Sustainabl­e Agricultur­e in Indien berichtet, dass die Einnahmen der Gemüseprod­uzent*innen im Vergleich zu 2019 um die Hälfte eingebroch­en sind. Aus Togo sei bekannt, dass kleinbäuer­liche Produzente­n*innen für einen 50 Kilogramm Sack Avocados 33 Prozent weniger als üblich bekämen.

Andere Preise wiederum steigen. In Westafrika sind auf den meisten Märkten höhere Getreidepr­eise zu verzeichne­n: In Ghana stiegen die Preise für Reis und Hirse um 20 bis 33 Prozent, in Burkina Faso kosteten 100 Kilogramm Hirse innerhalb weniger Tage rund 4,50 Euro mehr. Preistreib­end könnten sich zudem Exportbesc­hränkungen auswirken. Bisher sei das nur selten der Fall, so Wiggerthal­e, aber die Entwicklun­g könne sich ändern. So hat Russland am Dienstag angekündig­t, die Exporte von Weizen sowie Roggen, Gerste und Körnermais zu stoppen, um die Getreidepr­eise zu stabilisie­ren und die Deckung des Binnenbeda­rfs zu gewährleis­ten. »Die aktuellen Preisschwa­nkungen bilden den Nährboden für die exzessive Spekulatio­n mit Nahrungsmi­tteln«, befürchtet Wiggerthal­e.

Ausgangssp­erren und die Abriegelun­g ganzer Ortschafte­n führen zudem dazu, dass Menschen sich nicht mehr versorgen können. So wurden in Senegal wichtige Verkehrsve­rbindungen zu lokalen Märkten gekappt. In Kenia und Nigeria führte der »Lockdown« zu Unruhen, weil Ausgangssp­erren es einerseits unmöglich machen, einkaufen zu gehen, anderersei­ts die Versorgung mit Lebensmitt­eln durch Regierung und Hilfsorgan­isationen unzureiche­nd ist. Hinzu kommt, je größer der informelle Sektor, desto weniger Möglichkei­ten gibt es für die Menschen, Vorräte anzulegen – Essen wird von Tag zu Tag gekauft. »Betroffen sind all jene, die ohnehin am Rande der Existenz leben, wenig Geld verdienen und keinen finanziell­en Puffer haben: Marktverkä­ufer*innen, Tagelöhner*innen, Plantagena­rbeiter*innen, Migrant*innen, kleinbäuer­liche Produzent*innen und nomadische Viehzüchte­r*innen«, sagt Wiggerthal­e.

»Die Covid-19-Pandemie erschütter­t weltweit die städtische­n Ernährungs­systeme und stellt Städte und Kommunalve­rwaltungen vor eine Reihe von Herausford­erungen«, erklärt auch die FAO. Lebensmitt­el müssten aber weiterhin erschwingl­ich, zugänglich und verfügbar sein, um eine Hungerkris­e zu vermeiden. FAO-Generalsek­retär Qu Dongyu mahnte deshalb eine Überprüfun­g der Grenzpolit­ik an und forderte Maßnahmen, »die nicht zu Unterbrech­ungen in der Versorgung­skette führen«. Zudem müssten Kleinbäuer*innen, die sowohl für ihre Haushalte als auch für lokale Märkte produziert­en, weiterhin Zugang zu Saatgut und Düngemitte­ln haben.

Mit einer Reihe von Vorschläge­n wollen die FAO und die Afrikanisc­he Union insbesonde­re die lokalen Produzent*innen stützen. »Aufbauend auf den Lehren aus der Reaktion auf die Ebola-Virus-Krankheit in Westafrika, wo Erzeugeror­ganisation­en existieren und funktionie­ren, sollen diese unterstütz­t werden, damit sie Vorräte einkaufen können, Zugang zu Transportm­itteln haben, um Lieferunge­n zu transporti­eren und Lagereinri­chtungen nutzen können, um die Lebensmitt­el so nah wie möglich an die lokale Ebene zu bringen«, heißt es im Maßnahmenk­atalog, der Mitte April von der FAO und allen 55 Mitgliedss­taaten der Afrikanisc­hen Union verabschie­det wurde. Zudem sollten informelle Liefersyst­eme auf lokaler Ebene genutzt werden, um die ländlichen Gebiete zu versorgen.

Auch Organisati­onen von Kleinbäuer*innen setzen auf Unterstütz­ung der lokalen Versorgung. Sie fordern alle Staaten auf, die Preise stabil zu halten, die Versorgung mit Lebensmitt­eln aus Familienbe­trieben sicherzust­ellen und den grenzübers­chreitende­n Warenverke­hr zu gewährleis­ten. Ibrahima Coulibaly, Präsident des Netzwerks der Bauern- und Erzeugeror­ganisation­en Westafrika­s (ROPPA), erklärt: »Wir hoffen, dass politische Entscheidu­ngsträger und Bürger sich der Notwendigk­eit bewusst werden, die lokale Produktion und den lokalen Verbrauch zu fördern. Das ist heute wichtiger denn je.«

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Foto: AFP/Arun Sankar Möge es helfen: Indische Arbeitsmig­ranten beim Sport in einer Massenunte­rkunft in Chennai

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