Die neuartige Risikogruppe
Das neuartige Coronavirus, so vermuten Wissenschaftler, kann auch das Gehirn angreifen. Anders lasse sich nicht erklären, sagte etwa Virologe Christian Drosten, dass viele Infizierte über den Verlust des Geruchssinns klagten. Allerdings legten diverse Äußerungen der vergangenen Woche noch Schlimmeres nahe: Corona könnte auch das Oberstübchen von Menschen durcheinanderbringen, die sich (noch) nicht mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Was das betrifft, bilden bisher ausschließlich Männer in der zweiten Lebenshälfte die Risikogruppe – zumindest wenn man, wie einer der jüngeren, davon ausgeht, dass mit 80 nur noch das Sterben auf der To-do-Liste steht.
Aber Spaß beiseite. Wer will sich schon einreihen bei den Palmers, Castorfs, Kubickis und all jenen, für die die Infektionsketten gar nicht schnell genug wieder geschlossen werden können, denen 6600 Tote noch 593 400 zu wenig sind und denen Händewaschen zu viel ist, wenn es die Kanzlerin empfiehlt?
Klar, die Ungeduld wächst. Gerade weil sich die Zahlen – dank Lockdown, Abstand und Hygiene – hierzulande nicht ganz so schlimm entwickelt haben wie befürchtet, keimt die Hoffnung, dass alles schnell überstanden sein könnte. Man ertappt sich selbst, wie man sich über Stockwerke ohne Not am Treppengeländer festhält, weil man vergessen hat, das besser nicht zu tun. Die Bilder von überfüllten Intensivstationen, Kühlcontainern vor Krankenhäusern und Militärkonvois, die Leichen wegfahren, scheint es nur anderswo zu geben. Ja, war denn dann nicht alles übertrieben mit diesen Maßnahmen?
Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung scheint verstanden zu haben, dass es nicht dumm war, wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Bekämpfung der Pandemie zu berücksichtigen. Nach einer Umfrage im Auftrag der Initiative Wissenschaft im Dialog meinen das gut vier Fünftel in Deutschland. Allerdings glauben – noch immer oder schon wieder? – 22 Prozent, dass man sich diesbezüglich auf den »gesunden Menschenverstand« verlassen sollte. Das ist bei einer Krankheit erstens ein bisschen lustig und verweist zweitens wieder auf oben genannte Patienten, die im Zweifelsfall natürlich »ihre« Wissenschaftler zurate ziehen. »Diejenigen, die immer bloß sehen, was sie glauben, liefern denen, die immer bloß glauben, was sie sehen, die Argumente. Ohne Studienleiter Hendrik Streeck kein Jakob Augstein. Ohne Wirtschaftslobbyist Michael Hüther kein Armin Laschet«, schrieb Felix Bartels sehr treffend in der »Jungen Welt«.
Was den gesunden Menschenverstand angeht, halte man sich besser an die Abiturientin, die Anfang der Woche im Fernsehen sagte, sie fühle sich nicht so ganz wohl in der Schule. Schließlich könne sie sich anstecken, ohne es zu merken, aber ihre Oma deshalb an der Krankheit sterben. Das sei ihr das Abi nicht wert.