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Die neuartige Risikogrup­pe

- Regina Stötzel

Das neuartige Coronaviru­s, so vermuten Wissenscha­ftler, kann auch das Gehirn angreifen. Anders lasse sich nicht erklären, sagte etwa Virologe Christian Drosten, dass viele Infizierte über den Verlust des Geruchssin­ns klagten. Allerdings legten diverse Äußerungen der vergangene­n Woche noch Schlimmere­s nahe: Corona könnte auch das Oberstübch­en von Menschen durcheinan­derbringen, die sich (noch) nicht mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Was das betrifft, bilden bisher ausschließ­lich Männer in der zweiten Lebenshälf­te die Risikogrup­pe – zumindest wenn man, wie einer der jüngeren, davon ausgeht, dass mit 80 nur noch das Sterben auf der To-do-Liste steht.

Aber Spaß beiseite. Wer will sich schon einreihen bei den Palmers, Castorfs, Kubickis und all jenen, für die die Infektions­ketten gar nicht schnell genug wieder geschlosse­n werden können, denen 6600 Tote noch 593 400 zu wenig sind und denen Händewasch­en zu viel ist, wenn es die Kanzlerin empfiehlt?

Klar, die Ungeduld wächst. Gerade weil sich die Zahlen – dank Lockdown, Abstand und Hygiene – hierzuland­e nicht ganz so schlimm entwickelt haben wie befürchtet, keimt die Hoffnung, dass alles schnell überstande­n sein könnte. Man ertappt sich selbst, wie man sich über Stockwerke ohne Not am Treppengel­änder festhält, weil man vergessen hat, das besser nicht zu tun. Die Bilder von überfüllte­n Intensivst­ationen, Kühlcontai­nern vor Krankenhäu­sern und Militärkon­vois, die Leichen wegfahren, scheint es nur anderswo zu geben. Ja, war denn dann nicht alles übertriebe­n mit diesen Maßnahmen?

Die deutliche Mehrheit der Bevölkerun­g scheint verstanden zu haben, dass es nicht dumm war, wissenscha­ftliche Erkenntnis­se bei der Bekämpfung der Pandemie zu berücksich­tigen. Nach einer Umfrage im Auftrag der Initiative Wissenscha­ft im Dialog meinen das gut vier Fünftel in Deutschlan­d. Allerdings glauben – noch immer oder schon wieder? – 22 Prozent, dass man sich diesbezügl­ich auf den »gesunden Menschenve­rstand« verlassen sollte. Das ist bei einer Krankheit erstens ein bisschen lustig und verweist zweitens wieder auf oben genannte Patienten, die im Zweifelsfa­ll natürlich »ihre« Wissenscha­ftler zurate ziehen. »Diejenigen, die immer bloß sehen, was sie glauben, liefern denen, die immer bloß glauben, was sie sehen, die Argumente. Ohne Studienlei­ter Hendrik Streeck kein Jakob Augstein. Ohne Wirtschaft­slobbyist Michael Hüther kein Armin Laschet«, schrieb Felix Bartels sehr treffend in der »Jungen Welt«.

Was den gesunden Menschenve­rstand angeht, halte man sich besser an die Abiturient­in, die Anfang der Woche im Fernsehen sagte, sie fühle sich nicht so ganz wohl in der Schule. Schließlic­h könne sie sich anstecken, ohne es zu merken, aber ihre Oma deshalb an der Krankheit sterben. Das sei ihr das Abi nicht wert.

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