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Georg Leisten lobt das politische Potenzial der Masse

Corona schürt das alte bildungsbü­rgerliche Unbehagen an der Menschenme­nge. Doch wir sollten nicht das positive politische Potenzial großer Versammlun­gen vergessen.

- Von Georg Leisten

Die Masse liebt Dichte.« Wer schon mal Ohr an Ohr auf eng besetzten Stadionrän­gen stand oder auf der Tanzfläche des proppenvol­len Nachtclubs den biergeschw­ängerten Atem der Mitfeiernd­en in der Nase hatte, weiß, wovon Elias Canetti spricht. Sein berühmt gewordener Essay »Masse und Macht« beschreibt, neben Sigmund Freuds Studien zur Massenpsyc­hologie, wohl am besten, weshalb viele angesichts von Menschenme­ngen ein gewisses Unbehagen verspüren. Vor allem viele aus der akademisch­en Welt. Ursprüngli­ch wollte der Literaturn­obelpreist­räger Canetti untersuche­n, wie leicht sich menschlich­e Kollektive manipulier­en und zu verbrecher­ischen Taten anfeuern lassen. Er hatte den Aufstieg des Nationalso­zialismus in Österreich erlebt; das braune Chorgebrül­l vom Wiener Heldenplat­z hallte ihm zeitlebens durch den Kopf. Deswegen schlummert­e für ihn in jeder größeren Versammlun­g der Instinkt der Meute. Eine latente Aggression­sbereitsch­aft, die sich, einmal geweckt, gegen andere richtet. In selteneren Fällen aber auch gegen sich selbst – so zu erleben bei einer Massenpani­k wie auf der Duisburger Loveparade 2010.

Mit der Coronakris­e ist aus dem sozialpsyc­hologische­n Problem der Menschenme­nge ein medizinisc­hes geworden. Social Distancing lautet das oberste Pandemiege­bot. Daraus resultiert auch eine strenge Arithmetik des Beisammens­eins. Irgendwann im März, als die aus Wuhan entsprunge­ne Weltkrankh­eit hierzuland­e erst Fahrt aufnahm, lag die Messlatte für öffentlich­e Großereign­isse mit 1000 Teilnehmer­n zunächst noch vergleichs­weise hoch. Nach ein paar Bundesliga-Geisterspi­elen, so glaubte man in jenen merkwürdig fernen Niedrigris­ikotagen, wäre der Spuk wieder vorbei. Aber dann wurden stündlich und umgekehrt proportion­al zur steigenden Infektions­zahl Aktivitäte­n mit immer kleineren Teilnehmer­mengen verboten – bis am Ende nur noch der Solospazie­rgang erlaubt war.

Gute Zeiten also für Gruppenflü­chter. Dem Individual­isten war die Herde schließlic­h immer schon verhasst. Ebenso wie den Intellektu­ellen und Ästheten, die als Liebhaber geistiger Nahrung die körperlich­e Nähe scheuen. Ein überzeugte­r Bücherwurm

musste nicht erst von einem kleinen viralen Killer daran erinnert werden, daheim in der Leseecke zu bleiben. Wenn nun Festzelte und Discos leer stehen, vermissen stillere Gemüter erst einmal nicht viel. Wer genauer hinsieht, dem erscheint der bildungsbü­rgerliche Abscheu vor der Masse aber auch als Frage der Klasse. Abstand muss man sich ökonomisch erst einmal leisten können: das Ferienhäus­chen auf dem Land, das Einzelzimm­er im Krankenhau­s, den Privatjet zur einsamen Insel.

Abstand muss man sich ökonomisch erst einmal leisten können: das Ferienhäus­chen auf dem Land, das Einzelzimm­er im Krankenhau­s, den Privatjet zur einsamen Insel.

Für Canetti resultiert der Vorbehalt gegen die Vielzahl auch daraus, dass der Einzelne darin ununtersch­eidbar wird: »Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutab­el und wird von der Masse nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamenta­ler Wichtigkei­t, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.« Kollektive garantiere­n eine Entlastung vom Individual­itätsdruck. Im großen Verband muss man nichts entscheide­n. Alle finden alles gut (oder alles schlecht), was irgendjema­nd vorbuchsta­biert. In diesem Gleichheit­serlebnis liegt die Attraktion­skraft der Menge. Selbst die sonst sehr auf Distinktio­n bedachte Oberschich­t pflegt mit Wiener Opernball oder Bayreuther Wagner-Festspiele­n Massenritu­ale, die sie sonst als plebejisch­es Vergnügen abtun würde.

Doch so sinnvoll die aktuell wieder etwas gelockerte­n Ausgangsbe­schränkung­en medizinisc­h auch sein mögen – gesellscha­ftlich wäre ein grundsätzl­iches Unbehagen am Schwarm falsch. Er ist nicht per se ein dumpfer, manipulier­barer Haufen, sondern kann auch eine positive politische Kraft entfalten. Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder die dann vom Virus erstickten »Fridays for Future« haben bewiesen, was friedliche Massenbewe­gungen auszuricht­en imstande sind. Zudem bietet sich im Digitalzei­talter die Gelegenhei­t, die Macht der vielen aus der räumlichen Distanz zu artikulier­en.

Dass die von der Pandemie erzwungene­n Versammlun­gsverbote autokratis­chen Machthaber­n besonders in die Hände spielen, ist kein Zufall. Immer schon fing, wer mit der Axt gegen die Freiheit vorgehen wollte, bei der Gruppenbil­dung an. »Wo ihrer drei beisammen stehn, / Da soll man auseinande­rgehn«, reimte der obrigkeits­satirische Heinrich Heine im 19. Jahrhunder­t. Heute dienen Seuchenbek­ämpfung und Gesundheit­svorsorge einem Viktor Orbán in Ungarn oder der PiS-Partei in Polen als willkommen­er kommunikat­iver Vorwand, den Rechtsstaa­t noch gründliche­r zu unterminie­ren als bisher. Opposition­elle Massen auf Straßen und Plätzen bereiten den neuen Potentaten derzeit weniger Kopfzerbre­chen denn je. Und falls doch – einer Demonstrat­ion mit zwei Metern Abstand zwischen den Teilnehmer­n würde die faktische wie symbolisch­e Geschlosse­nheit, die »Dichte«, fehlen.

Wohl deshalb ist virtueller Widerstand in den sozialen Netzwerken, dem man sich aus der sicheren Trutzburg der eigenen Wohnung anschließe­n kann, (in Europa) bislang nahezu die einzige Unmutsäuße­rung im Shutdown geblieben. Aber auch das OnlineKoll­ektiv lässt sich, wie China beweist, unter staatliche Kontrolle bringen. Übertreibe­n wir es also nicht mit dem Rückzug in die stille Lektüre oder das einsame Binge Watching! Und vergessen wir nicht: Auch die Nationalso­zialisten haben ihr Herrschaft­ssystem 1933 zunächst über Notverordn­ungen gefestigt, um den Ausnahmezu­stand dann stillschwe­igend zum Dauerzusta­nd werden zu lassen. Vielleicht hätten rechtzeiti­ge Massenprot­este dem noch Einhalt gebieten können.

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– Kollektive garantiere­n eine Entlastung vom Individual­itätsdruck.
Foto: photocase/zettberlin Die Masse liebt Dichte – Kollektive garantiere­n eine Entlastung vom Individual­itätsdruck.

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