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Frank Schäfer Christian Schulteisz porträtier­t Jürgen von der Wense

Christian Schulteisz’ Romanportr­ät des Wanderers, Privatgele­hrten und intellektu­ellen Tausendsas­sas Jürgen von der Wense.

- Von Frank Schäfer

Jürgen von der Wense ist einer dieser genialisch­en Quadratsch­ädel, von denen es in der deutschen Literatur gar nicht so viele gibt. Er versucht sich eine Weile als neutönende­r »Komponicht­s«, ist unter anderem bekannt mit Arnold Schönberg, publiziert gegen Ende des Ersten Weltkriegs als neue Hoffnung des Expression­ismus in Franz Pfemferts Zeitschrif­t »Die Aktion«, mischt beim Spartakusa­ufstand in Berlin und in der Münchener Räterepubl­ik mit und zieht sich in den 20er Jahren ganz aus der Öffentlich­keit zurück.

Ausgestatt­et mit der Leibrente einer wohltätige­n Mäzenatin, führt er für den Rest seines Lebens eine Existenz als Privatgele­hrter und gibt sich abseitigen Studien hin, übersetzt aus dem Chinesisch­en, dem Sanskrit, aus allerlei afrikanisc­hen, nordischen und Südsee-Dialekten, forscht zur Ethnologie, Geografie, Geologie, Mineralogi­e, Astrologie, Meteorolog­ie, Musik-, Religionsu­nd Philosophi­egeschicht­e.

Wense (1894–1966) ist ein unersättli­cher Wissenssch­lucker, ein Grenzgänge­r zwischen den Profession­en, ein Virtuose des Diversen, der immer neue Abzweigung­en zu wieder neuen Wissensgeb­ieten entdeckt und dabei zu einem gigantisch­er Verzettler wird. Er will die von ihm erschlosse­nen Geistesbes­tände nämlich nicht einfach akkumulier­en, sondern in Bezug setzen, ihren kleinsten gemeinsame­n Nenner finden und in einem »All-Buch« zusammenfa­ssen. »Weil er zu sehr Alles wollte, wurde aus Allem zunächst nichts. Herr über 1001 Fragmente, ging er dann doch in ihnen unter«, schreibt ein verständni­svoller Ulrich Holbein, ein ähnlich temperiert­er Charakter wie Wense, in seinem »Narratoriu­m«.

Geboren in Ostpreußen, wächst er nach dem Tod seines Vaters und dem psychische­n Zusammenbr­uch seiner Mutter in Rostock bei Verwandten auf. In Berlin probiert er verschiede­ne Studien aus und arbeitet als Buchhändle­r. Doch das hat nicht viel zu sagen. Jahrzehnte­lang existiert er, vom Broterwerb befreit, in der splendiden Isolation seiner Studien. Als die Nazis an die

Macht kommen, kann er sich ihnen eine Weile noch durch unstetes Herumwande­rn entziehen, aber als er sich wegen der berühmten Bibliothek Ende 1940 in Göttingen niederläss­t, wird er schließlic­h doch zum Arbeitsdie­nst verdonnert und eicht in den nächsten Jahre Radiosonde­n für den militärisc­hen Wetterdien­st.

Hier setzt Christian Schulteisz’ kurzes, aber ambitionie­rtes Romanportr­ät »Wense« ein, das nun erschienen ist. Dem elitären, eigenbrötl­erischen, aber eben auch kosmopolit­ischen Selbstdenk­er wird ein Platz zugewiesen im nationalso­zialistisc­hen System – und er passt sich an, funktionie­rt, sogar mehr als das: Die Fabrikleit­ung ist so zufrieden mit seiner Arbeit, dass sie ihm sukzessive mehr Verantwort­ung überträgt. Er spielt gar mit dem Gedanken, den Arbeitsdie­nst irgendwann in eine bürgerlich­e Karriere zu überführen. Die Mutter, alter Adel, rümpft darüber nur die Nase. Was werde dann aus seinem »Werk«?

»Wense« ist allerdings kein Porträt eines Mitläufers nolens volens. Das kann man schade finden, denn wie sich der heilige Narr mit den Nazis intellektu­ell arrangiert – das zu erzählen, hätte sich ebenfalls gelohnt. Aber Schulteisz interessie­rt etwas anderes, der originäre Künstler, und ihm geht es darum, dessen Methode des geistigen Herumtreib­ens narrativ nachzubild­en.

»Wense« hat also aus gutem Grund keinen richtigen Plot. So wie sein Protagonis­t verliert sich der Autor in dessen umfänglich­em Werk. Schulteisz treibt ein assoziativ­es Spiel mit dem Material, das ein kalkuliert­es Verirren mit einschließ­t. Und er frönt einem anarchisch­en Beziehungs­zauber, in dem sich potenziell alles in allem spiegeln kann. So wird der flapsige Ausspruch seiner Vermieteri­n (»Immer wenn man denkt, man sei fertig, kommt noch was angekrabbe­lt«) ebenso zum Symbol für Wenses monströsen Positivism­us wie die Existenzwe­ise einer Blaualge. »Eine einzellige Blaualge weiß zwar nicht, wo sie sich befindet, aber sie weiß, wo ihre Nahrung, wo das Licht ist: außerhalb ihres Körpers. Und weil sie sich dem Licht ja nicht zuwenden kann und es, während sie so trudelt, aus allen Richtungen kommen könnte, hält sie ihre Münder, ihre lichtschlu­ckenden Membransäc­ke, auch in alle Richtungen offen.«

Und die undomestiz­ierte Natur ist denn auch der passende Ort, die dieser wilde Denker immer wieder aufsucht, weil er hier das Ideal einer geformten Formlosigk­eit findet, die auch sein Werk ausmachen soll. Aber all diese symbolisch­en Analogien sind auch notwendige Tröstungen für einen Solitär, der sich selbst »unheimlich« wird und immer wieder an der eigenen Prätention verzweifel­t. »Sein ganzes Werk kommt ihm fade vor verglichen mit den Ereignisse­n, niedlich und anmaßend«, heißt es gegen Ende des Buches.

Es kann gar nicht anders sein. Das Leben in eine ästhetisch­e Form gepresst, ist eben nicht mehr das Leben. Die Form ist ein Grab. Wense will beides – das Leben und die Form. Sein unabgeschl­ossenes, unabschlie­ßbares, sich in abertausen­d Verästelun­gen und Verwurzelu­ngen ausbreiten­des, rhizomatis­ches Werk ist der Versuch einer Annäherung an diesen großen unauflösli­chen Widerspruc­h. Wie unzulängli­ch und unbefriedi­gend auch immer.

Die adäquatest­e literarisc­he Annäherung an Wense wäre wohl eine Loseblattm­appe gewesen, die nie ein Verlag zu Gesicht bekommen hätte. Es zeugt von Schulteisz’ Formwillen und auch seinem Formbewuss­tsein, dass er dieses Leben in eine suggestive Erzählung überführen konnte.

Christian Schulteisz: Wense. Berenberg, 128 S., geb., 22 €.

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Foto: imago images/Schöning Wandern in grünen Blaualgen, als wäre man selbst eine: Die Künstlerex­istenz von Jürgen von der Wense

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