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Florian Schmid begrüßt die ersten Corona-Publikatio­nen

Florian Schmid stößt auf die Pionierwer­ke der Coronosoph­ie an

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Wer sich derzeit dem Deutschlan­dradioGeba­bbel der Großgedank­enbranche aussetzte, kann zu der Meinung gelangen, dass deren Erzeugniss­e nicht systemrele­vant seien. Neugierig war man dann aber doch, zumindest sportlich gesehen. Also darauf, wer jene Großgedank­en zuerst angemessen feilbieten würde: zwischen Buchdeckel­n.

Dass hiesige Starter – Bude! Nassehi! Was sagen Habermas und Reckwitz? – nicht das Rennen machen würden, war klar. Ist doch die deutsche nicht nur eine schwere, sondern auch langsame Sprache. Dennoch: Überraschu­ng! Sie haben Ihre Wette verloren: Obsiegt hat der italienisc­he Bestseller­Physiker Paolo Giordano mit »In Zeiten der Ansteckung«. Favorit Slavoj Žižek aber läuft mit »Pandemic« nur auf Platz zwei ein.

Trotzdem hat Žižek das schnellste Corona-Buch geschriebe­n. Am schnellste­n zu Lesen nämlich. Die hundert nicht eben eng bedruckten Seiten gehen glatt herunter, weil man als Konsument aufregende­r Weltdeutun­gsliteratu­r an Žižeks im Cut-up-Verfahren fabriziert­e hegelmarxi­stische Theoriesla­lom-Logorrhoe inzwischen gleicherma­ßen gewöhnt ist, wie man als deutscher TVBürger die Handlung eines »Tatorts« auch dann umgehend erfasst, wenn man erst zur Halbzeit einschalte­t. Und immerhin: Žižek lässt das Dachterras­sengerede à la »Sinngewinn durch Entschleun­igungserfa­hrung« beiseite und stellt auch nicht die grundstürz­end dämliche Frage, zu der jüngst der »Tagesspieg­el« diese Privilegie­rtenperspe­ktive verdichtet: Warum es nur so furchtbar schwer sei, die viral gewonnene Zeit »nicht zur Selbstopti­mierung zu nutzen«.

Stattdesse­n bedient Žižek die zweite Schiene der publizisti­schen Coronosoph­ie, das Narrativ vom »Virus als Zeitenwend­e«. Er reiht sich nicht ganz so platt wie andere in jenes Wunschdenk­en vom nunmehr erledigten Neoliberal­ismus ein. Doch entspringt auch bei ihm der Intensivst­ation am Ende der »Kommunismu­s«. Auch wenn es sich süffig liest, wie hierbei der Weltgeist namens Corona ausgerechn­et Boris Johnson zur Rückversta­atlichung der Bahn veranlasst, verfällt Žižek dabei in eine simple Dichotomie von »Markt« und »Staat«, als wäre Letzterer nicht Teil des Ersteren.

Wo Žižek das Virus als parasitäre­n »Living Dead« vorstellt, schütteln Evolutions­biologen den Kopf – und wo er es gar »demokratis­ch« nennt, weil es alle gleich behandle, überholt ihn die »Tagesschau« an Klassenbew­usstsein. So führt sein Blitzbuch zu zwei Erkenntnis­sen: Dass erstens Corona bisher kein Einschnitt ist, sondern alle das gleiche schreiben wie zuvor, wenn auch vielleicht ein bisschen schneller. Und dass zweitens Bude et al. ihre avisierten Variatione­n zum Thema »Jetzt müssen alle über globale Solidaritä­t nachdenken und erfahren den Begriff des Kollektivs ganz neu« nicht ausführlic­h aufzuschre­iben brauchen. Denn auch diesen Gemeinplat­z nimmt Žižek schon mit – wie übrigens gleichfall­s jener Giordano. So dürfen die Großgedank­enhaber einstweile­n Prosecco auf der Dachterras­se schlürfen. Es wäre nur schön, wenn sie irgendwann herunterkä­men. Denn politisch ernst wird’s nicht erst »nach Corona«.

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