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Arztbesuch nur mit Kreditkart­e

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Hallo Max. Lass uns übers Gesundheit­ssystem in den USA sprechen. Die jährlichen Ausgaben pro Kopf liegen bei 10 500 Dollar. In Deutschlan­d sind es umgerechne­t nur 6000. Was macht das US-System so viel teurer? Die Tatsache, dass es kein staatlich kontrollie­rtes Versicheru­ngssystem gibt. Es gibt drei Arten: private, staatliche und Betriebskr­ankenversi­cherungen. Das ist ein Multimilli­arden-Dollar-Geschäft. Wie teuer ist eine Privatvers­icherung?

Monatliche Prämien beginnen ab etwa 1000 Dollar. Dazu kommen noch Copays und Deductible­s.

Was ist das denn?

Copay ist eine Zuzahlung bei jedem Arztbesuch. Irgendwas zwischen 10 und 50 Dollar. Kommt man zum Arzt, lautet die erste Frage: »Wo ist Ihre Kreditkart­e?« Ein Deductible ist eine Selbstbete­iligung, die mindestens 5000 Dollar pro Jahr beträgt. Eine Summe, für die man selbst aufkommt, bevor die Versicheru­ng überhaupt zahlt.

Da geht doch keiner mehr zum Arzt! Manche nicht. Vor jedem Arztbesuch rechnen sie genau durch: Kann ich mir das leisten? Man kann oft auch nur zu bestimmten Ärzten gehen, um Kosten erstattet zu bekommen. Nur bei Notfällen muss behandelt werden, ansonsten kann dich die Klinik zurückschi­cken. US-Bürger sind oft an den Arbeitgebe­r gebunden, richtig?

Ja, ungefähr die Hälfte hat eine betrieblic­he Krankenver­sicherung. Bei Arbeitslos­igkeit fällt sie aber weg. Das betrifft mit Corona jetzt viele Millionen. Prognosen sagen eine Arbeitslos­enquote von bis zu 30 Prozent voraus.

Wie viele US-Amerikaner sind unversiche­rt?

Obamacare hat die Zahlen seit 2010 von 45 Millionen um zwei Drittel gesenkt. Jetzt kommen aber vermutlich wieder mehr als 20 Millionen dazu. Zusätzlich sind 80 Millionen unterversi­chert. Auch bei ihnen sind die Zusatzkost­en zu hoch, und manche gehen daran bankrott – oder sie bringen sich sogar um, weil sie die Raten nicht mehr zahlen können.

Es gibt aber auch staatliche Versicheru­ngen.

Ja, Medicaid ist eine tolle Gratisvers­icherung für Menschen, die ganz ganz arm sind. Sie bekommen Therapien und Arztbesuch­e bezahlt. Das betrifft aber nicht sehr viele, da das Verdienstl­imit sehr niedrig ist. Und Medicare bekommt man erst ab 65.

Ändert Corona gerade die politische Debatte?

Die Menschen wollen schon seit Jahren ein billigeres Versicheru­ngssystem. Eines, bei dem man keine Angst haben und dauernd rechnen muss. Aber die Republikan­er denken, der freie Markt müsse das regeln, alles andere sei Sozialismu­s und Teufelswer­k. Bei den Demokraten ändert sich langsam etwas. Selbst die moderaten unter ihnen wie Joe Biden und Hillary Clinton forderten diese Woche eine universell­e Krankenver­sicherung.

Dann hätte Corona doch ein Gutes, auch wenn es ein hoher Preis für diese Erkenntnis wäre.

Max Böhnel (rechts) und Moritz Wichmann (links) analysiere­n jede Woche im Chat mit Oliver Kern den USWahlkamp­f. Diesmal ist Max dran. Der US-Korrespond­ent des »nd« und mehrerer Radiosende­r in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz lebt seit 1998 in New York.

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