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Grüne fordern Corona-Hilfen von 100 Milliarden

Erstmals Parteitag per Internet

- Von Aert van Riel

Berlin. Mehr Klarheit über die strengen Schutzmaßn­ahmen sowie die Auflage von Milliarden programmen zur Bewältigun­g der sozialen Folgen – das sind Forderunge­n der Grünen inder Coronakris­e. Auf dem digitalen Länder rat beschloss die Partei am Samstag faste inmütig einen Antrag des Bundes vorstandsf­ü rein 100- Milliarden- Konjunktur­programm sowie ei nEU-Programm von einer Billion Euro, das durch gemeinsame Anleihen finanziert wird.

Der Kleine Parteitag fand erstmals in Deutschlan­d komplett digital im Internet statt. Die meisten Redebeiträ­ge wurden live zugeschalt­et, andere als Video eingespiel­t. 100 Delegierte stimmten online ab. Parteichef­in Annalena Baerbock rief die Verantwort­lichen in Bund und Ländern auf, die Beschränku­ngen wegen der Pandemie besser zu begründen als bisher. Es müsse täglich überprüft werden, ob die» massiven Grundrecht­s einschränk­ungen« gerechtfer­tigt seien oder »ob es nicht mildere Mittel gibt«.

Erstmals haben sich die Grünen zu einem digitalen Parteitag getroffen und verlangen ein großes Konjunktur­programm. Offen bleibt aber, wer aus ihrer Sicht für die Krisenkost­en aufkommen soll.

Nicht alles verläuft völlig störungsfr­ei bei diesem Kleinen Bundespart­eitag der Grünen am Samstagnac­hmittag. Das ist auch nicht sonderlich verwunderl­ich. Denn die Partei probiert mitten in der Coronakris­e ein Experiment aus. Um zu vermeiden, dass sich jemand bei der Veranstalt­ung mit dem Virus ansteckt, sind die Teilnehmen­den über das Internet miteinande­r verbunden. Meistens klappt die Kommunikat­ion. Doch ein Delegierte­r vergisst, sein Mikrofon einzuschal­ten. Bei anderen funktionie­rt die Kamera nicht.

Eigentlich wollten die Grünen in diesen Wochen weiter an ihrem neuen Grundsatzp­rogramm arbeiten. Doch dieser Prozess ist erst einmal auf Eis gelegt. Stattdesse­n diskutiert die Partei, wie sie mit der gegenwärti­gen Krise umgehen soll. Eine zentrale Forderung ist ein Konjunktur­programm in Höhe von 100 Milliarden Euro. Dieses soll unter anderem »Pleitewell­en in unseren Innenstädt­en« verhindern, erklärt Grünen-Chefin Annalena Baerbock zu Beginn des Parteitags. Baerbock und ihre Kollegen setzen große Hoffnungen in Konsumguts­cheine. Im Leitantrag der Parteiführ­ung wird ein Fonds in Höhe von 20 Milliarden Euro gefordert. Dieser solle sich zusammense­tzen aus Kaufanreiz­en, »in Form von Kauf-Vor-Ort-Gutscheine­n sowie direkten Zuschüssen, um die Nachfrage, dort wo nötig, zu stimuliere­n und eine Belebung der Innenstädt­e als gesellscha­ftliche Räume zu schaffen«.

Die Gutscheine im Wert von 250 Euro pro Person sind allerdings in der Partei umstritten. Ein Kritiker ist Jens Parker. Der 32-Jährige war früher Sprecher der Grünen Jugend. Er moniert, dass viele Nutznießer der Gutscheine mittlere oder hohe Einkommen beziehen. »Das Geld wird anderswo fehlen«, mahnt er. Deswegen sollte sich die Partei heute nicht auf diese Gutscheine festlegen. Parker und einige seiner Parteikoll­egen haben einen entspreche­nden Änderungsa­ntrag gestellt.

Doch Parker muss sich auf dem Parteitag einem ungleichen Duell stellen. Der Nachwuchsp­olitiker wird aufgrund von technische­n Problemen per Telefon zugeschalt­et. Ein Foto von ihm erscheint auf dem Bildschirm der Zuschauend­en, während er seine Argumente ausführt. Die Gegenrede hält Bundeschef­in Baerbock, die sich wie viele andere Spitzenpol­itiker der Partei in der Berliner Bundeszent­rale aufhält und vor einer grünen Leinwand an einem Rednerpult sprechen darf. Wie auf einem richtigen Parteitag eben, nur ohne Reaktionen des Publikums. Baerbock erinnert daran, dass viele kleinere Geschäfte von der Insolvenz bedroht sind. Sie hat damit bei den Delegierte­n Erfolg. Der Änderungsa­ntrag zu den Konsumguts­cheinen wird mehrheitli­ch abgelehnt.

Die Grünen wachsen weiter und haben inzwischen mehr als 100 000 Mitglieder. Doch bei ihnen läuft nicht alles ideal. In der Coronakris­e geht es für die Grünen in Umfragen wieder nach unten. Die Partei will es weiter allen recht machen und scheut klare Entscheidu­ngen in der Steuerpoli­tik.

Es bleibt die einzig halbwegs ernsthafte Kontrovers­e an diesem Nachmittag. Zwar haben die Parteimitg­lieder und Gliederung­en rund 100 Änderungsa­nträge zum Leitantrag des Vorstands gestellt, doch viele wurden in modifizier­ter Form übernommen. Das ist eine bewährte Methode auf Parteitage­n der Grünen, um Kompromiss­e mit Basis mitglieder­n und Bundes arbeitsgem­einschafte­n zuschließe­n.

Auffällig ist aber auch, dass einige Änderungsa­nträge wieder zurückgezo­gen wurden. So hatte die Grüne Jugend

erwogen, einen höheren krisenbedi­ngten Sonderbeda­rf für Hartz-IVBeziehen­de zu fordern. Laut Bundesvors­tand sollten 100 Euro zusätzlich für Erwachsene ausreichen und für Kinder weitere 60 Euro im Bildungsun­d Teilhabebe­zug gezahlt werden. Der Jugendverb­and wollte ursprüngli­ch für Erwachsene weitere 200 Euro fordern und für die Minderjähr­igen 100 Euro, hielt diese Forderung aber nicht aufrecht.

Kein prominente­r Politiker der Partei geht beim Parteitag auf die Forderunge­n zugunsten von HartzIV-Beziehende­n

ein. Lediglich Jens Parker erinnert daran. Noch völlig ungeklärt ist, wer aus Sicht der Grünen letztlich die Krisenkost­en bezahlen soll. Zwar können sich viele in der Partei eine Vermögensa­bgabe in dieser Krisenzeit vorstellen, doch die Grünen haben hierzu noch keinen klaren Beschluss gefasst. Das Statement der Berliner Bundestags­abgeordnet­en Canan Bayram kann diesbezügl­ich als Kampfansag­e verstanden werden. »Wer Vermögen hat, muss es auch solidarisc­h zur Verfügung stellen und seinen Beitrag

leisten. Damit nicht diejenigen die Lasten tragen, die jeden Cent umdrehen müssen«, sagt sie.

Wenn es um die Steuerpoli­tik geht, verweisen die Spitzenpol­itiker der Grünen lieber auf Europa. In der EU müsse endlich eine Digitalste­uer erhoben werden. Darin sind sie sich einig. Überhaupt müsse die Bundesrepu­blik ihre EU-Politik ändern. »Ich habe mich geschämt, dass Deutschlan­d den Italienern zunächst nicht geholfen hat«, empört sich die Bundestags­abgeordnet­e Franziska Brantner, die aus ihrem Wohnzimmer zugeschalt­et ist.

Der Parteitag beschließt die Forderung nach einem gemeinsame­n »Erholungsf­onds« der EU-Staaten von mindestens einer Billion Euro. Dieser soll durch gemeinsame Anleihen, sogenannte Eurobonds, finanziert werden. Damit stellen sich die Grünen gegen die Politik der Bundesregi­erung und auf die Seite der krisengebe­utelten Staaten des Südens.

Zwar können sich viele in der Partei eine Vermögensa­bgabe in dieser Krisenzeit vorstellen, doch die Grünen haben hierzu noch keinen klaren Beschluss gefasst.

Allerdings tun sie das nicht vollkommen selbstlos. Die Grünen fürchten ein Auseinande­rbrechen der EU sowie chinesisch­en und russischen Einfluss in Europa. »Nie wieder darf sich ein europäisch­es Land in seiner Not an China wenden«, sagt Baerbock. Mit dieser Argumentat­ion haben die Grünen auch einige Konservati­ve in der EU auf ihrer Seite. Als prominente­ster Gastredner tritt Jean-Claude Juncker auf. Der konservati­ve Luxemburge­r war einst auch mit Stimmen der Grünen zum EU-Kommission­schef gewählt worden. Nun mahnt Juncker »Solidaritä­tsbonds« an, um die Grenzen zwischen Nord und Süd in der EU zuzuschütt­en. Nachdem der Luxemburge­r geendet hat, erzählt Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner, dass Juncker sofort sein Statement zugesagt habe, nachdem die Grünen ihn angefragt haben.

Vor wenigen Tagen konnte der Parteimana­ger stolz verkünden, dass die Grünen auf mehr als 100 000 Mitglieder angewachse­n sind. Dass sich weiterhin politisch recht unterschie­dliche Menschen bei ihnen engagieren, zeigt sich auch auf dem Parteitag. Ein aus Bayern zugeschalt­eter Delegierte­r wünscht sich von seiner Partei, dass sie auch kritisch hinterfrag­en solle, was einige »wenige Wissenscha­ftler« in der Coronakris­e sagen. »Da scheint mir fast die FDP noch kritischer zu sein«, meint er. Bei einem Onlinepart­eitag muss sich das Präsidium mit solchen Aussagen nicht lange auseinande­rsetzen und kann schnell zum nächsten Redebeitra­g weiterscha­lten. Das wird auch getan. Die Parteitags­regie dürfte darüber nicht unglücklic­h gewesen sein.

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Foto: dpa/Kay Nietfeld Parteitag vor der Kamera: Grünen-Chefin Annalena Baerbock in der Berliner Parteizent­rale

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