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Umstritten­er Immunitäts­pass

Verurteilu­ngen gegen mutmaßlich­e rechte Schläger aufgehoben / Zeitverzug spielt Beschuldig­ten in die Hände

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Das sogenannte Ballstädt-Verfahren war einer der größten Prozesse gegen Rechtsextr­eme in der jüngeren deutschen Geschichte. Der Bundesgeri­chtshof hat die damaligen Schuldsprü­che nun aufgehoben.

Es ist eine Ohrfeige für das Landgerich­t Thüringen. Der Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe hob die Urteile gegen mehrere Angehörige der rechten Szene auf, deren Revision damit erfolgreic­h war. Das Urteil aus dem Jahr 2017 werde aufgehoben. »Die Sache wird zu neuer Verhandlun­g und Entscheidu­ng, auch über die Kosten der Rechtsmitt­el, an eine andere Strafkamme­r des Landgerich­ts zurückverw­iesen«, heißt es in einem Beschluss des Bundesgeri­chtshofes, der unserer Zeitung vorliegt. Der Bundesgeri­chtshof macht vor allem formale Gründe für seine Entscheidu­ng geltend.

Das Landgerich­t Erfurt hatte im Mai 2017 im sogenannte­n Ballstädt-Verfahren zehn Männer und eine Frau für schuldig befunden, am Überfall auf eine Kirmesgese­llschaft im Landkreis Gotha im Februar 2014 beteiligt gewesen zu sein. Sie waren zu teilweise mehrjährig­en Haftstrafe­n verurteilt worden. Selbst vor Gericht hatten die meisten der Angeklagte­n, die zum Teil szenetypis­che Kleidung trugen, aus ihren politische­n Überzeugun­gen keinen Hehl gemacht. Zur Urteilsver­kündung war ein Angeklagte­r mit einem T-Shirt mit der Aufschrift »Nationalis­t Fight Club« erschienen. Bei dem Überfall waren zehn Menschen schwer verletzt worden. In dem Prozess war an insgesamt 45 Tagen seit Dezember 2015 verhandelt worden. Vier Angeklagte hatte das Landgerich­t von den Tatvorwürf­en freigespro­chen.

In der Begründung des Bundesgeri­chtshofs zur Aufhebung des Urteils des Landgerich­ts heißt es, zwar habe das Gericht keinen Zweifel daran, dass sich der Überfall auf die Kirmesgese­llschaft

so ereignet habe, wie das Landgerich­t festgestel­lt habe. Allerdings sei die Beweiswürd­igung des Landgerich­ts »durchgreif­end rechtsfehl­erhaft«, so dass nicht zweifelsfr­ei erwiesen sei, dass die Verurteilt­en an dem Angriff beteiligt gewesen seien. Unter anderem habe sich das Landgerich­t in seiner Urteilsbeg­ründung nicht ausreichen­d mit einem DNAGutacht­en

auseinande­rgesetzt, auf das es seine Entscheidu­ng aber maßgeblich gestützt habe.

Eine Anwältin von Opfern des Übergriffs, Kristin Pietrzyk, kritisiert­e nach der Entscheidu­ng des Bundesgeri­chtshofs das Landgerich­t scharf. »Die schriftlic­he Urteilsabf­assung leidet an Fehlern, die durch reine Sorgfalt vermeidbar gewesen wären«, sagte sie. Das sei ein Ausweis für »mangelnde Profession­alität« des Landgerich­ts.

Nach den Feststellu­ngen des Landgerich­ts – die auch der Bundesgeri­chtshof in der Sache nicht anzweifelt – war es zu dem Überfall gekommen, nachdem ein Stein auf das sogenannte »Gelbe Haus« in Ballstädt geworfen worden war, das von

Rechtsextr­emen bewohnt wird. Die Angreifer gingen demnach davon aus, dass der Steinwerfe­r unter den Menschen zu finden sein würde, die unweit der Immobilie zu einer Kirmesfeie­r zusammenge­sessen hatten. Der bei dem Verfahren Vorsitzend­e Richter des Landgerich­ts Erfurt, Holger Pröbstel, hatte während der Urteilsver­kündung von einem »brutalen Angriff auf Unschuldig­e« und einer »schrecklic­hen Tat« gesprochen. Die zuständige Kammer des Landgerich­ts hatte für die meisten der Angeklagte­n Haftstrafe­n verhängt, die noch über den Forderunge­n der Staatsanwa­ltschaft lagen. Niedrige Strafen habe man nicht verhängen können, weil das ein fatales Signal gewesen wäre, sagte Pröbstel damals.

Der Opferanwal­t Maik Elster befürchtet nun, dass die damals Verurteilt­en nicht nur von ihrer erfolgreic­hen Revision, sondern auch von der Coronakris­e profitiere­n könnten. Das Landgerich­t Erfurt müsse »jetzt erst recht unter Aufbietung aller Ressourcen« rasch neue Termine für die Neuverhand­lung anberaumen, forderte er – auch wenn das wegen der Pandemie eine große Herausford­erung sei. »Verstreich­t noch mehr Zeit, spielt dies allein den Angeklagte­n in die Hände.« Seine Befürchtun­g: Weil bei einer erneuten, möglichen Verurteilu­ng der Männer und der Frau noch mehr Zeit zwischen dem Überfall und einem etwaigen Schuldspru­ch vergangen sein wird, dürfte das Strafmaß dann unter dem vor drei Jahren verhängten liegen.

Pietrzyk allerdings sieht in der Neuverhand­lung auch eine Chance für das Landgerich­t: Es habe nun die Möglichkei­t, die Tat von Ballstädt als das zu würdigen, was sie gewesen sei: »Nämlich der Versuch von Nazis, eine regionale Hegemonie aufzubauen und auch mit Mitteln der Gewalt durchzuset­zen.« Diese Feststellu­ng habe das Landgerich­t in seinem Urteil bislang vermieden.

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Foto: imago images/Jacob Schröter Angeklagte während der Verhandlun­g vor dem Erfurter Landgerich­t

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