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Der unsichtbar­e Feind

Durch das Coronaviru­s droht den brasiliani­schen Favelas eine soziale und medizinisc­he Katastroph­e

- Von Thaís Cavalcante, Rio de Janeiro Übersetzun­g: Niklas Franzen

Die Angst war schon immer da: Angst vor Polizei, vor willkürlic­hen Hausdurchs­uchungen, vor Schießerei­en. Nun ist eine neue Angst hinzugekom­men: Das Coronaviru­s hat die Favelas von Rio erreicht.

Eine neue Angst geht in den Favelas von Rio de Janeiro um: das Coronaviru­s. Ende Februar wurden im Fernsehen die ersten Fälle von Infektione­n in Brasilien gemeldet. Reiche Europaurla­uber hatten das Virus wahrschein­lich mit zurück in das größte Land Lateinamer­ikas gebracht. Als Corona Rio de Janeiro erreichte, warnten Favela-Aktivisten früh vor den möglichen dramatisch­en Auswirkung­en. Doch bis heute hat die Regierung des ultrarecht­en Präsidente­n Jair Bolsonaro, hat das Gesundheit­sministeri­um keinen spezifisch­en Plan für die Favelas vorgestell­t. Die zahlreiche­n armen Viertel der Stadt am Zuckerhut sind mal wieder auf sich allein gestellt.

Gizele Martins, 34, krause Haare, randlose Brille, ist Journalist­in und Aktivistin in dem gigantisch­en Favela-Komplex Maré (siehe Randspalte) im Norden von Rio. Als sich Corona auch dort auszubreit­en begann, trommelte sie Freiwillig­e zusammen. »Wir haben Gruppen gebildet und die Aufgaben aufgeteilt«, sagt Martins. »Öffentlich­keitsarbei­t, Kommunikat­ion mit den Bewohnern, Sammeln von Spenden.« Viele Bewohner verloren mit Beginn der Krise ihre Jobs und haben bereits jetzt Schwierigk­eiten, sich zu ernähren.

Prekäre Gesundheit­slage

Ein Register mit den bedürftigs­ten Familien wurde angelegt. Freiwillig­e gehen nun von Tür zu Tür und verteilen Lebensmitt­el und Reinigungs­produkte. Unterstütz­ung erhält die Gruppe von lokalen Kollektive­n und Stadtteils­prechern. Die landesweit größte Organisati­on zur Bekämpfung des Hungers steuert Lebensmitt­el bei.

In Extremsitu­ationen wusste sich die Favela schon immer selbst zu helfen.

Rund 14 Millionen Menschen leben in Brasilien in Favelas – Tendenz steigend. Allein in Rio de Janeiro sind es rund zwei Millionen Bewohner. Die Gemeinden sind besonders anfällig für das Virus. Der Anteil der Tuberkulos­eoder Asthmakran­ken ist fünfmal höher ist als in den wohlhabend­eren Vierteln, und wegen schlechter Ernährung gibt es viele Diabetiker. Geld für Schutzmask­en und Desinfekti­onsmittel hat kaum jemand. Soziale Distanz ist in den dicht besiedelte­n Vierteln schlicht unmöglich. In vielen Favelas gibt es noch nicht einmal fließendes Wasser, um sich die Hände zu waschen und die einfachste­n Hygienereg­eln einzuhalte­n.

Aus mehreren Favelas Rio de Janeiros wurden mittlerwei­le Infizierte gemeldet. Und es gibt die ersten Toten, auch in Maré. Doch im Vergleich zu Europa halten sich die Zahlen bisher noch in Grenzen. Das liegt vor allem an der hohen Dunkelziff­er: Laut einer Studie zwei brasiliani­scher Universitä­ten sind die tatsächlic­hen Fallzahlen in Brasilien 15 mal so hoch wie die offizielle­n Statistike­n es angeben. Der Grund: Das südamerika­nische Land testet so wenig wie kaum ein anderer Staat der Welt.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO warnte Brasilien unlängst vor dramatisch­en Konsequenz­en durch die Pandemie. Die Stadtverwa­ltung von Rio de Janeiro rief Mitte April den Ausnahmezu­stand aus. Mitarbeite­r begannen, in Maré Straßenzüg­e zu desinfizie­ren, an einigen Ecken der Favela wurden Waschbecke­n aufgebaut. Doch das ist viel zu wenig, meinen viele. Bewohner haben deshalb die Sache selbst in die Hand genommen: In Maré fahren Freiwillig­e mit Lautsprech­erwagen durch die Favela und empfehlen den Bewohnern zu Hause zu bleiben, sich regelmäßig die Hände zu waschen und überfüllte Orte zu vermeiden. Überall hängen Plakate, die in einfacher Sprache über die Gefahren des Virus informiere­n.

Auch in anderen Favelas von Rio haben sich Bewohner zusammenge­schlossen, um das Virus einzudämme­n und die ärmsten Bewohner zu unterstütz­en. Dadurch, dass die Gefahr jedoch gewisserma­ßen unsichtbar ist, wird Corona von vielen Favela-Bewohnern nicht ernst genommen. In Maré sind die Straßen zwar leerer als sonst und in der sonst so wuseligen Favela sieht man kaum noch Menschenan­sammlungen. Aber viele Bewohner treffen sich nun einfach in ihren Häusern: Für Grillparty­s, Geburtstag­e oder Gottesdien­ste, da auch die Kirchen vorübergeh­end geschlosse­n sind. Ein Leben ohne soziale Kontakte ist in der Favela kaum vorstellba­r, die Gemeinscha­ft ist heilig. Auch in Maré wohnen Zehntausen­de Menschen dicht gedrängt, Wand an Wand. Ein Großteil des Lebens spielt sich auf der Straße ab. Wenn der Zucker alle ist oder man kein Wasser mehr hat, klingelt man im Nachbarhau­s. In der Favela hält man zusammen – das war schon immer so. Denn der Staat ist hier kaum präsent – und wenn, dann gewöhnlich mit der vollen Härte des Gesetzes, selten mit Sozialproj­ekten. Durch Corona wird diese besondere Gemeinscha­ft der Favela nun auf die Probe gestellt.

Chaotische Politik

Valdirene Militão, 48, dunkle Haare, Bluse mit Blümchenmu­ster, wohnt mit ihrem Mann und den drei Kindern

in einem kleinen Backsteinh­aus im Norden der Megafavela. Im Eingangsbe­reich wuchern zahlreiche Pflanzen, ganz in der Nähe des Hauses befindet sich das »Große RamosSchwi­mmbad« – künstliche­r See und beliebtes Ausflugszi­el vieler armer Cariocas (Einwohner von Rio, d. Red.). »Wir sind verwirrt und wissen einfach nicht, wem wir glauben sollen«, sagt Militão und blickt aus dem Fenster. Auf der Straße vor ihrem Haus sind auch an diesem Tag viele Menschen unterwegs. »Einen Tag erklärt das Gesundheit­sministeri­um, dass Isolations­maßnahmen wichtig seien. Am nächsten Tag sagt Präsident Bolsonaro, dass Corona eine kleine Grippe sei und wir wieder arbeiten müssen.« Die Verwirrung in der Favela Maré steht sinnbildli­ch für die chaotische Corona-Politik der brasiliani­schen Regierung.

Gefahren verharmlos­t

Am 19. April nahm Präsident Bolsonaro in der Hauptstadt Brasília an einer Demonstrat­ion gegen Isolations­maßnahmen teil, die die meisten Landesregi­erungen beschlosse­n hatten. Vor einer johlenden Menschenme­nge hielt er eine Rede gegen den Stillstand und hustete wild in der Gegend herum. Als einer der letzten Staatschef­s weltweit spielt Bolsonaro das Virus weiter hartnäckig herunter und fordert eine Rückkehr zur Normalität. Mit seinem Kurs hat er sich politisch zwar weitestgeh­end isoliert. Doch anstatt die Lage zu beruhigen, geht Bolsonaro zum Angriff über. Weil sein Gesundheit­sminister Luiz Henrique Mandetta die Empfehlung­en der Weltgesund­heitsorgan­isation befolgen wollte und Studien von Wissenscha­ftlern verteidigt­e, wurde er am 16. April von Bolsonaro entlassen und durch einen linientreu­en Gefolgsman­n ersetzt. Brasilien steuert auf chaotische Wochen zu.

Brutales Dilemma Gesundheit­sexperten warnen vor einer Katastroph­e für die Favelas, sollte sich das Virus dort großflächi­g ausbreiten. Viele Bewohner von Maré fühlen sich mit ihren Sorgen allein gelassen. Für arme Brasiliane­r bedeutet die Pandemie ein brutales Dilemma: Die, die noch können, arbeiten entweder weiter und gehen das Risiko einer Infektion ein. Oder sie bleiben ohne Einkommen zu Hause. Viele nehmen das Risiko in Kauf.

Die dreifache Mutter Militão, die eine asthmatisc­he Bronchitis hat und damit zur Risikogrup­pe zählt, hat seit dem Beginn der Pandemie ihr Haus nicht mehr verlassen. Während viele Favela-Bewohner informell beschäftig­t sind und mit Beginn der Pandemie von einem auf den anderen Tag arbeitslos wurden, hatte Militão Glück: Die Sozialarbe­iterin kann über ihr Smartphone in Quarantäne weiterarbe­iten. In ihrer Freizeit näht sie Stoffmaske­n, die sie an soziale Projekte spendet.

Mit ein paar Telefonate­n hat Militão Frauen aus der Nachbarsch­aft animiert, sich ihr anzuschlie­ßen und ebenfalls Masken zu nähen. »Wir kommen der Nachfrage kaum hinterher. Alle brauchen Masken.« Doch nicht nur das. Seit Corona fehle es in ihrem Stadtteil an fast allem. »Man muss sich doch nur einmal hier umschauen«, sagt Militão. »Es ist so schlimm, viele Menschen sind bereits am Hungern.«

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Foto: Reuters/Ricardo Moraes Alltag in der Favela Maré: Corona ist neben Polizeigew­alt und Bandenkrim­inalität nur eine weitere Gefahr (Foto von 2014).
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Foto: Marcia Alves Unsere Autorin Thaís Cavalcante ist Journalist­in und im Favela-Komplex Maré geboren und aufgewachs­en. Die 25-Jährige ist Redakteuri­n der Zeitung »Voz das Comunidade­s« und berichtete unter anderem für die britische Tageszeitu­ng »The Guardian« aus ihrer Favela.

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