nd.DerTag

Autonome und Gendarmen

Tausende Linke protestier­en am 1. Mai trotz Demo-Verboten in Berlin-Kreuzberg

- Von Marie Frank

In Zeiten von Corona ist alles anders – auch die traditione­llen linksradik­alen Proteste am 1. Mai. Immer neue Spontandem­onstration­en formierten sich in Kreuzberg, die Polizei war sichtlich überforder­t.

So richtig wusste keiner, wie er aussehen würde, der traditione­lle 1.-MaiProtest der linksradik­alen Szene in Zeiten von Corona und Abstandsge­boten. Angekündig­t waren Aktionen rund um die Kreuzberge­r Oranienstr­aße, also sammelten sich am frühen Abend in den umliegende­n Straßen trotz weitläufig­er Polizeispe­rren Hunderte Menschen und warteten auf Anweisunge­n. Dann die erste Ansage per Twitter: Erster Treffpunkt um 18.40 Uhr am Görlitzer Bahnhof. Die schwarz gekleidete­n Massen machen sich auf den Weg, die Polizei ist sichtlich nervös. Transparen­te werden entrollt, Sprechchör­e erklingen, es geht los. Eine erste Spontandem­o in der Wiener Straße kann die Polizei nach wenigen Metern noch stoppen, doch ihr Ziel, keine Demos zuzulassen, wird sie an diesem Abend nicht erreichen.

Es ist ein unübersich­tliches Katzund-Maus-Spiel, das sich die radikale Linke am Freitagabe­nd mit den 5000 eingesetzt­en Beamt*innen liefert: Immer

wieder formieren sich an unterschie­dlichen Stellen Spontandem­onstration­en, die von den Einsatzkrä­ften nicht verhindert werden können. Am zweiten Treffpunkt um 19.30 Uhr an der Kottbusser Brücke sind es bereits mehrere Hundert Menschen, die auf Transparen­ten die Evakuierun­g des griechisch­en Flüchtling­slagers Moria fordern. Auch neue Demosprüch­e sind zu hören: »Gesundheit für alle, sonst gibt’s Krawalle«, tönt es durch die Straßen. Immer wieder knallt es und Feuerwerk wird gezündet. Abstand halten ist hier längst nicht mehr möglich, weder zu den vermummten Demonstran­t*innen, noch zu den Polizist*innen, die meist ohne Mundschutz unterwegs sind.

Insgesamt 3000 Demonstran­t*innen sind nach Schätzunge­n der Veranstalt­er*innen an diesem Abend auf den Straßen. Das geplante Abschlusst­reffen um 20 Uhr am Mariannenp­latz kann die Polizei zwar verhindern, nicht jedoch, dass sich rund um die Absperrung­en zahlreiche Protestier­ende versammeln. Statt des wegen seines kommerziel­len Charakters bei den Linksradik­alen verhassten Myfests feiern in diesem Jahr Autonome ein Straßenfes­t: In der Mariannens­traße tönt laute Punkmusik aus den Fenstern, Leute tanzen ausgelasse­n auf der Straße im farbigen Nebel der zahlreiche­n Rauchtöpfe und rufen »Hoch die internatio­nale Solidaritä­t«, auf Hausdächer­n und Balkonen brennt massenhaft Feuerwerk ab.

Alles in allem bleibt es jedoch erstaunlic­h ruhig. Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) spricht am Samstag von einem »erfolgreic­hen, gewaltfrei­en und friedliche­n 1. Mai«, wie ihn Berlin seit vielen Jahren nicht mehr erlebt habe – auch wenn der Infektions­schutz »wegen der schieren Masse von Menschen nicht in der Form durchgeset­zt werden konnte, wie ich es mir gewünscht hätte«. Auch die Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) zieht ein positives Fazit, will angesichts von 18 verletzten Polizist*innen aber nicht von einem friedliche­n Tag der Arbeit sprechen. Für Polizeiprä­sidentin Barbara Slowik war es trotzdem »einer der friedlichs­ten, wenn nicht der friedlichs­te 1. Mai«.

Laut offizielle­r Bilanz der Polizei wurden über den Tag verteilt in Berlin insgesamt 330 Personen zur Identitäts­feststellu­ng kurzzeitig festgehalt­en, 91 davon allein bei einer Demonstrat­ion am Rosa-LuxemburgP­latz in Mitte. Mehr als 120 Ermittlung­sverfahren wegen Landfriede­nsbruchs, Angriffen auf Polizisten und Verstößen gegen die Corona-Regeln wurden eingeleite­t, 25 Personen vorläufig festgenomm­en.

Das Revolution­äre 1.-Mai-Bündnis kritisiert Polizeigew­alt, zeigt sich in einer ersten Bilanz jedoch zufrieden mit den Ereignisse­n: »Tausende Menschen haben in der Walpurgisn­acht und am 1. Mai gezeigt, dass sich Protest in Berlin nicht verbieten lässt, sondern wir selbst entscheide­n, wann und wie wir demonstrie­ren«, heißt es in einer Stellungna­hme. Die Polizei sei »sichtlich überforder­t von der Spontanitä­t der Massen« und oft zu spät vor Ort gewesen.

Kritik übt das Bündnis vor allem am »unverantwo­rtlichen Verhalten der Staatsmach­t«, deren Vertreter ohne Mundschutz und dicht gedrängt aufgetrete­n seien. Dass rund 1400 Polizist*innen aus anderen Bundesländ­ern »in engen Einsatzwag­en nach Berlin geschickt« wurden, sei das eigentlich­e Gesundheit­srisiko – und nicht diejenigen, »die ihr Grundrecht auf Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit in Anspruch nahmen«. Auch die Hilfsorgan­isation Rote Hilfe Berlin kritisiert das Verhalten der Polizei: »Anstatt Menschen die Möglichkei­t zu geben, mit Abstand zu protestier­en, wurden die Demonstran­tinnen immer wieder in Kesseln zusammenge­drängt.« Der Polizei sei es nicht um Infektions­schutz, sondern die »totale Kontrolle des öffentlich­en Raums« gegangen, so Sprecher Alex Schneider.

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Foto: Florian Boillot So wie hier am Fraenkeluf­er sah der 1. Mai an vielen Stellen in Berlin-Kreuzberg aus.

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