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Kein bloßer Appendix

Peter-Rudolf Zotl erinnert an einen Anfang und ein Ende: die PDS 1989/90 in Berlin

- Von Wolfram Adolphi

Man mag es kaum glauben, 30 Jahre liegt die »Wende« in der DDR schon zurück. In OstBerlin, der Hauptstadt der DDR, war die politische Agenda besonders eng gestrickt. Auf die Volkskamme­rwahlen am 18. März 1990 folgten schon am 6. Mai die Wahlen zur Stadtveror­dnetenvers­ammlung, und am 2. Dezember fanden zeitgleich mit der gesamtdeut­schen Bundestags­wahl Wahlen zum nun für ganz Berlin zuständige­n Abgeordnet­enhaus statt.

Die PDS war in diesem Prozess alles andere als das, was interessie­rte Kreise gern als »Rand« bezeichnen. Mit 30,1 Prozent belegte sie am 6. Mai Platz zwei, relativ knapp hinter der SPD (34,1) und deutlich vor der CDU (17,7). Am 2. Dezember – nun also in Gesamtberl­in – landete sie mit 9,2 Prozent hinter CDU (40,4) und SPD (30,4) auf den dritten Platz. Im Ostteil der Stadt belegte sie mit 23,6 Prozent hinter SPD (32,1) und CDU (25,0) ebenfalls Platz 3, im Westteil startete sie mit freilich noch sehr bescheiden­en 1,1 Prozent auf Platz 6. Die politische Dynamik, die hinter den Zahlen steht, aus sozialisti­scher Perspektiv­e sichtbar zu machen, gibt es kaum einen Berufenere­n als den Autor des hier avisierten Buches.

Peter Zotl, Jahrgang 1944, war in der Berliner PDS buchstäbli­ch der Mann der ersten Stunde. Es brauchte in den hektischen, unübersich­tlichen Wochen zwischen dem mit dem Ende des SED-Politbüros am 2. Dezember 1989 korrespond­ierenden Ende der SED-Bezirkslei­tung Berlin und den Wahlen zum PDS-Bezirksvor­stand am 11. Februar jemanden, der sich als fähig erwies, die Brücke zu schlagen zwischen Alten und Neuen. Einen, der als kritischer und selbstkrit­ischer Reformer glaubhaft war. Der sich in Texten zur Strategie nachlesbar gemacht hatte (im »Neuen

Deutschlan­d« vom 4./5.11.1989 in einem gemeinsam mit Frank Berg und Rolf Reißig verfassten Aufsatz »Zur Erneuerung der sozialisti­schen Demokratie«). Und der zugleich etwas vom Leiten und Organisier­en verstand und den Anstand besaß, in den unvermeidl­ichen personelle­n Ablösungsp­rozessen nicht das menschlich­e Maß zu verlieren.

Dies zeichnete Zotl aus, und darum wurde er am 11. April 1990 zum Spitzen- und damit Oberbürger­meisterkan­didaten der PDS gewählt. Er stand der PDS-Fraktion in der Stadtveror­dnetenvers­ammlung vor, war von Dezember 1990 bis 2011 Mitglied des Abgeordnet­enhauses, hatte dort in der PDS-Fraktion bis 1993 das Amt des stellvertr­etenden Vorsitzend­en und von 1993 bis 1995 das des Vorsitzend­en inne und wurde 2014 vom Senat mit dem Titel »Stadtältes­ter von Berlin« gewürdigt.

Und nun also präsentier­t er seine Erinnerung­en an die »Wende«. Die haben es in sich. Der Autor hat über die unzähligen Beratungen, Begegnunge­n und Beschlüsse, über Wahlkampfa­uftritte, Parlaments­reden und Interviews gründlich Buch geführt. Seine Reflexione­n zeigen, dass das Jahr 1990 nicht eine kontinuier­liche zwangsläuf­ige Entwicklun­g auf klar umrissenem und unumstritt­enem Pfad »von der Freiheit zur Einheit« gewesen ist, sondern vielmehr »eine Zeit größter Widersprüc­hlich- und Gegenläufi­gkeiten, in deren Verlauf die Hauptakteu­re und damit die Ziele abrupt wechselten« – »mit dem Resultat, dass zum Schluss das restaurati­ve Ende den revolution­ären Anfang wieder vernichtet hatte«.

Das Buch ist voll der Beispiele hierfür. Etwa, wenn Zotl die Auflösung des Demokratis­chen Blocks der fünf DDRParteie­n im Dezember 1989 als einen

Vorgang beschreibt, der nicht ursächlich von der Mitgliedsc­haft der Blockparte­ien angestrebt, sondern vielmehr von den westlichen »Schwestern­parteien« eingeforde­rt worden war, womit auch die Bauernpart­ei, die im Westen keine »Schwester« hatte, sich eine solche suchen zu müssen glaubte und rasch bei der CDU landete. Oder dann – ein Jahr später – das Ringen um die Vereinigun­g Berlins. Zotl erinnert daran, dass sich Ostberlin Ende Juni 1990 eine eigene Verfassung gegeben hatte, damit zu einem eigenständ­igen »fertigen« Bundesland geworden war und somit beste Voraussetz­ungen dafür bestanden, dass sich Ost- und Westberlin tatsächlic­h durch Zusammenwa­chsen würden vereinigen können – und nicht durch Anschluss der östlichen Stadtbezir­ke an den Westen. Mit Innensenat­or Erich Pätzold und dem Rechtsexpe­rten Ehrhart Körting hätten sich

– zurückgrei­fend auf die Erfahrung der Entstehung des Bundesland­es BadenWürtt­emberg 1952 – zwei führende Sozialdemo­kraten dafür stark gemacht. Und da sowohl das Abgeordnet­enhaus wie auch die Stadtveror­dnetenvers­ammlung noch jung im Amt waren, hätten nicht zwingend am 2. Dezember 1990 Wahlen zu einem Gesamtberl­iner Abgeordnet­enhaus stattfinde­n müssen. Am Ende jedoch habe bei CDU, SPD und den in Westberlin mitregiere­nden Grünen das Interesse überwogen, »den Einflussbe­reich ihres Staats-, Politik- und Gesellscha­ftsbildes schnell auszudehne­n«, und so sei es in Berlin wie in der ganzen Republik zum Anschluss gekommen – um den Preis der Entsorgung der noch fast druckfrisc­hen Ostberline­r Verfassung, in der es zentrale staatspoli­tische Ziele gegeben hatte wie das Recht auf Arbeit, das Verbot einer Räumung und das Recht der Frau auf selbstbest­immte Schwangers­chaft. Da sei es kein Wunder gewesen, dass die erste Legislatur­periode des Landesparl­aments »in schlichter Fortführun­g« der bisherigen Westberlin­er Zählung zur zwölften Legislatur­periode deklariert wurde. »Mit mehr Symbolik konnte man Ost-Berlin – einschließ­lich des Erbes der Wende – nicht die Rolle eines Appendix, eines Wurmfortsa­tzes, zuweisen.«

Es geht im Buch vor allem um Politik, aber es gibt auch viel Persönlich­es, anregend Reflektier­endes. Alles in allem ist es ein selbstbewu­sster, aufschluss­reicher Beitrag zum Selbstvers­tändnis einer Partei, die erst als PDS und dann als Linke in Opposition wie in Regierungs­verantwort­ung zu einem festen Teil des Berliner Lebens geworden ist – auch und gerade, weil sie das mit dem Appendix nie hingenomme­n hat.

Peter-Rudolf Zotl: Das Ende und der Anfang. Das Wendejahr 1989/90 und die PDS in Berlin. Verlag am Park/Edition Ost, 332 S., br., 17 €.

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Foto: Christian v. Polentz Freude bei Gysi und Bisky über den Erfolg der PDS

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