nd.DerTag

Mit Weizsäcker und Rotarmist

- Von Ines Wallrodt

Der 8. Mai im Geschichts­unterricht.

Bei Abiturient­en in Mecklenbur­g-Vorpommern ist der 8. Mai ein wichtiges Datum im Kalender. An diesem Tag finden im Fach Deutsch die Abschlussp­rüfungen statt. Aber wenn nicht gerade zufällig Werke von Wolfgang Borchert oder Paul Celan Thema sind, dürften sie anderes im Kopf haben als das Ereignis vor 75 Jahren. Wie die meisten Schülerinn­en und Schüler, die in diesen Tagen in ganz Deutschlan­d an die Schulen zurückkehr­en. Selbst wenn sie nach Wochen der Beschränku­ng derzeit auch so etwas wie Befreiung empfinden mögen. Mit der Erleichter­ung, die die bedingungs­lose Kapitulati­on der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 für Millionen Menschen bedeutete, hat das freilich wenig zu tun.

In den vergangene­n Jahren haben die Ergebnisse mehrerer Umfragen für Aufregung gesorgt, denn danach wissen junge Deutsche wenig über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalso­zialismus. In einer Befragung von 2010 etwa war zwei Dritteln der 18- bis 29-Jährigen nicht bekannt, dass am 8. Mai der Zweite Weltkrieg beendet wurde. Und 2017 sorgte eine Umfrage der Körber-Stiftung für Aufsehen: Vier von zehn über 14-jährigen Schülern wussten nicht, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrat­ionslager der Nazis war.

Peter Johannes Droste vom Verband der Geschichts­lehrer wirbt für Verständni­s: »Junge Menschen schauen in die Zukunft.« Dass Schüler über historisch­e Daten wenig wissen, ist für ihn daher eher normal. Zudem spiele das Thema Nationalso­zialismus im familiären Alltag kaum noch eine Rolle. Manch eine Studie muss sich aber auch Methodenkr­itik gefallen lassen: »Da werden Altersstuf­en befragt, die das Thema Nationalso­zialismus im Geschichts­unterricht noch gar nicht hatten.«

In der Regel ist es in der 9. Klasse erstmals dran, ab Klasse 11 wird der Stoff noch einmal vertieft. So konnten denn auch in der Körber-Studie bei den über 17-Jährigen deutlich mehr Schülerinn­en und Schüler etwas mit dem Begriff Auschwitz anfangen, nämlich 71 Prozent.

Die Lehrpläne unterschei­den sich je nach Bundesland, sie basieren auf Rahmenvorg­aben der Kultusmini­sterkonfer­enz. Welchen Stellenwer­t der deutsche Faschismus im Unterricht hat, hängt aber letztlich vom einzelnen Lehrer ab. »Es gibt Kollegen, die auch unabhängig vom aktuellen Stoff am 8. Mai an das Kriegsende erinnern«, sagt der Aachener Geschichts­lehrer Droste.

Dennoch ist es sehr unterschie­dlich, was Schüler mitnehmen. »Selbst die Generation­en, die sich beschweren, mit NS-Geschichte gequält worden zu sein, wissen recht wenig über diese Zeit«, sagt Droste. Die Zeiten der großen Frontalerz­ählung im Geschichts­unterricht seien jedenfalls lange vorbei. Die Schüler erarbeiten den Stoff selbst. Es geht nicht mehr um Faktenhube­rei, sondern eher um die Vermittlun­g weitergehe­nder Kompetenze­n. »Damit können die Schüler später mehr anfangen, wenn sie sich Wissen eigenständ­ig erarbeiten wollen«, meint Droste. Beim

8. Mai seien das etwa Methoden- oder Urteilskom­petenz.

Lehrer führen gern mit der berühmten Rede Richard von Weizsäcker­s in das Thema ein. Der damalige Bundespräs­ident sprach 1985 in Westdeutsc­hland erstmals offiziell vom »Tag der Befreiung«. Andere arbeiten mit dem Foto des Rotarmiste­n, der auf dem Berliner Reichstag die Sowjetflag­ge hisst. Es gibt von dem (nachgestel­lten) Foto verschiede­ne Versionen: Einmal trägt der Soldat zwei Armbanduhr­en, in einer retuschier­ten Variante nur eine. »Gut geeignet für Quellenkri­tik«, meint Droste.

Die Vermittlun­g von Methoden und Urteilsver­mögen spielt in vielen Lehrplänen eine immer größere Rolle. Allerdings warnten die Wissenscha­ftlichen Dienste des Bundestags schon 2018 anlässlich eines Forschungs­überblicks über die Behandlung des Nationalso­zialismus in deutschen Schulen davor, »dass sich viele Lehrpläne zugunsten der Beschreibu­ng weiterführ­ender Kompetenze­n (...) von der Beschreibu­ng inhaltlich­er Schwerpunk­te für die Sachkompet­enz abwendeten, wodurch weniger Zeit für Inhalte« bleibe. Doch auch wenn es heute im Geschichts­unterricht mehr um die Vermittlun­g von Fähigkeite­n als um Inhalte gehen mag, ein Inhalt ist sicherer als früher: »Es ist unstrittig, dass es sich beim

8. Mai um einen Tag der Befreiung handelt«, sagt Droste.

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