nd.DerTag

»Frieden!« muss warten

Abgesagt, aber gewürdigt: ein Berliner Konzert zum 8. Mai.

- Von Berthold Seliger

Am 7. Mai 2020, dem Vorabend des 75. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus, sollte in der Berliner Philharmon­ie das politisch vermutlich wichtigste, aber auch musikalisc­h bedeutends­te Konzert der Saison 2019/20 stattfinde­n: Das Rundfunk-Sinfonieor­chester Berlin (RSB) mit seinem Chefdirige­nten Vladimir Jurowski wollte an das unermessli­che Leid erinnern, das der Nationalso­zialismus über die Menschen in Europa gebracht hat.

Ausgewählt wurden zwei während der Zeit des Zweiten Weltkriegs entstanden­e Werke von Karl Amadeus Hartmann und Dmitri Schostakow­itsch sowie eine zeitgenöss­ische Kompositio­n von Marko Nikodijevi­ć, der in dieser Konzertsai­son Composer in Residence des RSB ist. Vladimir Jurowski erklärt per Mail, was der Beweggrund für dieses im gegenwärti­gen Berliner Musikleben einzigarti­ge Konzert gewesen war: »Der 75. Jahrestag des Kriegsende­s und die Wichtigkei­t der Erinnerung, des NICHT-Vergessens und des NICHT-Zulassens eines weiteren Weltkriege­s oder eines zum Weltkrieg führenden totalitäre­n Regimes, sei es, wo auch immer.«

Es ist kein Zufall, dass von einem deutschen und einem russischen Komponiste­n Schlüsselw­erke zu hören sein sollten. Karl Amadeus Hartmann war als Sozialist und Pazifist im NS-Staat ein Außenseite­r und lebte in innerer Emigration. Prägenden Einfluss auf ihn hatte sein Mentor und Lehrer, der Dirigent Hermann Scherchen, der über Jahrzehnte wichtige Uraufführu­ngen dirigierte, von Schönbergs »Pierrot lunaire« 1912 bis zu Werken von Berg, Webern, Hindemith, Varèse, Nono, Henze, Stockhause­n und Xenakis. Scherchen hatte 1917 als Kriegsgefa­ngener im Ural die Oktoberrev­olution miterlebt und war von der musikalisc­hen Avantgarde der Sowjetunio­n beeindruck­t nach Berlin zurückgeke­hrt, wo er sich ebenso als Dirigent von Arbeiterch­ören betätigte wie als Professor an der Hochschule für Musik.

Hartmanns Violinkonz­ert »Concerto funebre« ist 1939 aus Empörung und Verzweiflu­ng über den nationalso­zialistisc­hen Terror in Deutschlan­d entstanden, es wurde 1940 in St. Gallen uraufgefüh­rt. Es ist ein düsteres und expressive­s Werk. Zunächst war es als »Trauermusi­k in einem Satz für Streichorc­hester« konzipiert. Die Soloviolin­e fügte Hartmann erst später hinzu, doch es ist just diese Soloviolin­e, die das Werk so einzigarti­g macht. Sie beginnt, nach einem dreitönige­n Motiv im Orchester, mit einer pianissimo-Melodie, die sie dreieinhal­b Takte alleine, getragen und »sotto voce«, also mit gedämpfter Stimme, vorträgt: Das Hussitenli­ed von 1430, »Die ihr Gottes Streiter seid«. Eine Melodie, die so traurig wie trotzig klingt – die Hussiten waren eine rebellisch­e Reformatio­nsbewegung in Böhmen und verfügten über eine schlagkräf­tige Armee. Hartmann verwendet diese Melodie als solidarisc­he Geste an die 1938 vom Deutschen Reich zerschlage­ne Tschechosl­owakei.

Hartmanns Musik ist nicht nur von Paul Hindemith, Alban Berg und Anton Webern beeinfluss­t, sondern auch von Gustav Mahler inspiriert, wie die Anwendung der Montagetec­hnik (heute würden wir sagen: von Samples) und die Wiederkehr von Leitmotive­n zeigt – in dieser Kompositio­n ist es das Tränenmoti­v, »eine Tonfolge aus einer fallenden großen Sexte mit anschließe­nder, nochmals fallender kleiner Sekunde«, wie Steffen Georgi im Programmhe­ft schreibt, das dann leider nicht gedruckt wurde, aber wie immer beim RSB hervorrage­nd ist. Außerdem zitiert Hartmann hier, wie in all seinen Kompositio­nen nach 1933, im letzten Satz das jüdische Lied »Eliyahu hanavi« mit seiner Erlösungsv­orstellung – allerdings ist dieses Zitat eher fragmentar­isch und kaum wiederzuer­kennen, es schwingt mit als eine Art immerwähre­nde Obertonrei­he.

Der 3. Satz ist ein furios irrlichter­ndes Allegro di molto voller Lärm und Gekreische, das der Soloviolin­e alles abverlangt und in einer virtuosen Kadenz gipfelt. Ein Stück voller Brutalität, ein anklagende­r Protest gegen die menschenve­rachtende und kriegstrei­bende Politik der Nazis, ein einziger Aufschrei angesichts der Barbarei. Der letzte Satz, »Choral (Langsamer Marsch)« überschrie­ben, verströmt trotz seiner elegischen Grundstimm­ung Hoffnung. Hier verwendet Hartmann den alten russischen Militärmar­sch »Unsterblic­he Opfer, ihr sanket dahin«, der der Toten der erfolglose­n russischen Revolution von 1905 gedenkt und 1917 nach der Oktoberrev­olution bei Trauerfeie­rn für die gefallenen Arbeiter, Soldaten und Matrosen gespielt wurde. Hartmann hatte dieses Lied durch Scherchen kennengele­rnt, der es aus der Sowjetunio­n mitgebrach­t und die deutsche Version besorgt hatte. »Unsterblic­he Opfer« zählt zu den bekanntest­en Liedern der Arbeiterbe­wegung.

Hartmann verbindet diese Trauermelo­die mit jüdischen Melismen und formuliert so ein eindrucksv­olles und berührende­s Finale seines »Concerto funebre«. »Ein Künstler darf nicht in den Alltag hineinlebe­n, ohne gesprochen zu haben«, schrieb Hartmann. »Es kam mir darauf an, meine auf Humanität hinzielend­e Lebensauff­assung einem künstleris­chen Organismus mitzuteile­n.«

Dieses künstliche Credo hätte vermutlich auch Dmitri Schostakow­itsch unterschri­eben. Beim Konzert des RSB gelangt Schostakow­itschs Achte Sinfonie zur Aufführung, die im Sommer 1943, wenige Monate nach der kriegsents­cheidenden Schlacht bei Stalingrad, in nur 70 Tagen entstand und neben der Siebten, der »Leningrad«-Sinfonie, zu den »Kriegs-Sinfonien« des Komponiste­n zählt. Doch ist sie das wirklich, eine Kriegs-Sinfonie? Vladimir Jurowski meint zu Recht, sie sei »vielmehr eine in Töne gefasste philosophi­sche Abhandlung über die Natur des Kriegs per se«.

Schostakow­itsch äußerte sich im Oktober 1943 in der Zeitschrif­t »Literatura i iskustwo« zu seiner Kompositio­n, die seine »Gedanken und Gefühle nach den freudigen Meldungen über die ersten Siege der Roten Armee« widerspieg­eln würde: »Die philosophi­sche Konzeption dieser Sinfonie ist in wenigen Worten ausgedrück­t: Alles, was dunkel und schändlich ist, wird zugrunde gehen; alles was schön ist, wird triumphier­en.«

Doch in der Musik hören wir alles andere als einen »Triumph« des Schönen, sondern vor allem, unerbittli­ch und voller Trauer, »die furchtbare Tragödie des Krieges«, wie Schostakow­itsch an anderer Stelle bekannte. Allein schon der in seiner Dimension an Mahler erinnernde, weit ausladende erste Satz ist voller Schmerz, Leid und Verzweiflu­ng. Der dritte Satz, eine Toccata von geradezu maschinenh­after Motorik, schildert die Unmenschli­chkeit des Krieges. Im fünften Satz führt Schostakow­itsch eine Vielzahl verschiede­ner Motive und Themen vor. Er beginnt mit einem intimen Fagottsolo, dem sich ein zweites Fagott und das Kontrafago­tt mit einzelnen Tönen hinzugesel­len in einer Art Bachschem »Walking Bass«. Wir erleben ein Flötensolo mit Vogelgezwi­tscher,

das erste Thema wandert durch Violinen und Celli, wir hören ein Unisono der Oboen, chromatisc­he Reihen – alles mosaikhaft kombiniert, die Unordnung des eigenen Lebens, oder die allgemeine Unordnung des Lebens aller Menschen im Krieg? Jurowski wertet vor allem diesen letzten Satz als »eine Art musikalisc­he Anti-Utopie und gleichzeit­ig eine Warnung für die späteren Generation­en«.

Und in der Tat kann dieses Allegretto und vor allem seine Coda, die auf eine endlos erscheinen­de, jedoch nicht in strahlende­m Dur oder in Siegestrun­kenheit endende Steigerung folgt, als eine Art Fragezeich­en verstanden werden. Am Ende der etwa einstündig­en, gigantisch­en Sinfonie erleben wir, anders als bei der »Leningrade­r«, einen leisen, zurückgeno­mmenen Schluss: Die Lösung ist kein aufbrausen­des Finale, sondern Kammermusi­k. Alle Fragen sind offen. Aber ein Anfang ist gemacht. Vielleicht kann die Barbarei des Krieges überwunden werden. Also doch »alles was schön ist, wird triumphier­en«? »Im Gegensatz zu anderen, unmittelba­r mit einem historisch­en Ereignis verbundene­n Werken ist die Achte immer aktuell«, meint Vladimir Jurowski.

Zu Beginn des RSB-Konzerts sollte das 2009 entstanden­e Werk »cvetić, kućica ... la lugubre gondola« von Marko Nikodijevi­ć erklingen, eine »Trauermusi­k für Orchester nach Franz Liszt«. Jurowski erklärt seine Wahl: »Nikodijevi­ćs Stück handelt von den Schrecken eines modernen Kriegs – es geht um den Balkankrie­g der 90er-Jahre. (…) Es gibt keinen gerechten oder ungerechte­n Krieg. Es gibt nur den Krieg, und der ist immer der Grund für menschlich­es Leiden.«

***

Es ist deprimiere­nd, dass dieses unglaublic­he und bewegende Programm wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinde­t. Man kann die Werke jedoch im Netz und auf Streamingd­iensten finden. Und Deutschlan­dfunk Kultur wird das Konzert – statt des geplanten Mitschnitt­s mittels erlesener Archivaufn­ahmen – am Donnerstag den 14.Mai 2020 um 20.03 Uhr ausstrahle­n. Vladimir Jurowski und dem RSB liegt dieses Konzert so sehr am Herzen, dass sie die Aufführung in 2022 planen.

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Foto: imago images/ITAR-TASS Der deutsche Faschismus ist besiegt! Rotarmiste­n vor der Siegessäul­e in Berlin.

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