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Trotz Selbsthilf­e ist die Not groß in den griechisch­en Lagern. Die Zeit drängt, so EU-Parlamenta­rier Erik Marquardt.

Vor fünf Jahren gründeten sich Organisati­onen der Seenotrett­ung.

- Von Fabian Hillebrand

Als Reaktion auf die Einstellun­g der staatlich organisier­ten, italienisc­hen Seenotrett­ungsoperat­ion »Mare Nostrum« gründeten Klaus Vogel, ein in der internatio­nalen Handelssch­ifffahrt tätiger, deutscher Kapitän, und Sophie Beau, eine französisc­he Menschenre­chtsaktivi­stin gemeinsam die Seenotrett­ungsorgani­sation SOS Méditerran­ée. Fast zeitgleich trug der Ostberline­r Kleinunter­nehmer Harald Höppe beim Amtsgerich­t Charlotten­burg unter der Registernu­mmer VR 34179 B den Verein Sea-Watch e.V. ein.

Es war nur der Anfang einer großen Stunde der europäisch­en Zivilgesel­lschaft. Dutzende weitere Schiffe sollten folgen, sie kamen aus Spanien und Italien, aus Frankreich und aus Deutschlan­d. Zeitweise über ein Dutzend Schiffe retteten unzählige Leben.

Fünf Jahre später ist kein einziges Schiff mehr im zentralen Mittelmeer unterwegs. Das deutsche Innenminis­terium schrieb jüngst einen Brief an die Seenotrett­er mit der Bitte, die Rettungen in der Coronakris­e einzustell­en. In dem Schreiben, das »nd« veröffentl­ichte, heißt es: »Angesichts der aktuellen schwierige­n Lage appelliere­n wir an Sie, derzeit keine Fahrten aufzunehme­n und bereits in See gegangene Schiffe zurückzuru­fen.« Der Grünen-Politiker Erik Marquardt nennt den Brief eine »Frechheit«, die eigentlich »eine Welle der Empörung auslösen müsste«. Hilfsorgan­isationen seien von den Corona-Maßnahmen üblicherwe­ise ausgenomme­n. »Wie fern von irgendeine­r demokratis­chen Haltung ist es denn«, kritisiert der Europaparl­amentarier, »wenn man Seenotrett­er, die Menschen vor dem Ertrinken retten, darum bittet, ihre Arbeit einzustell­en?« Horst Seehofer, dessen Ministeriu­m den Brief verfasst hat, solle »mal bei den Menschen auf den Flüchtling­sbooten anrufen und ihnen vermitteln, dass sie nun leider ertrinken müssen, weil sie sonst wegen Corona in eine schwierige Situation kommen könnten«, so Marquardt.

Hintergrun­d des Briefes war wohl ein Ersuchen der italienisc­hen Innenminis­terin Luciana Lamorgese. Diese hatte sich an Bundesinne­nminister Seehofer mit dem Hinweis gewandt, das unter deutscher Flagge fahrende Schiff »Alan Kurdi« der Nichtregie­rungsorgan­isation Sea-Eye habe seine Rettungsak­tivitäten im zentralen Mittelmeer wieder aufgenomme­n. Die italienisc­he Regierung wies darauf hin, dass Italien wegen des Coronaviru­s vor einem Gesundheit­snotstand stehe und daher keine Aufnahme und Versorgung von Flüchtling­en aus dem Mittelmeer gewährleis­ten könne. Die »Alan Kurdi« legte trotzdem ab – und rettete 183 Menschen. »Eigentlich müsste das Bundesinne­nministeri­um und Horst Seehofer zu jedem Einzelnen, der in Seenot war, hingehen und sagen: Es tut mir leid, dass dieser Brief geschriebe­n wurde«, meint Marquardt.

Am 6. Mai setzten die italienisc­hen Behörden die »Alan Kurdi« im Hafen von Palermo fest. Angeblich wegen technische­r Kontrollen. Es war das letzte private Schiff, das noch auf dem Mittelmeer gefahren ist. Die Seenotrett­ung wurde in ihrer Geschichte schon oft für beendet erklärt. Sie hielt sich länger als Matteo Salvini und seine Politik der geschlosse­nen Häfen. In der Coronakris­e ist sie erneut in schwerem Fahrwasser. Weiter nötig ist sie auf jeden Fall: Der Bundestag machte am Donnerstag den Weg frei für die Beteiligun­g an der EU-Marinemiss­ion »Irini«. Im Gegensatz zur Vorgängerm­ission »Sophia« soll diese ausdrückli­ch keine Flüchtling­e retten.

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Foto: Reuters/Elias Marcou

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