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Keine Sperenzche­n

Westlern empfohlen: die 1968 in der DDR produziert­e fünfteilig­e Serie »Wege übers Land«.

- Von Stefan Ripplinger

Gewöhnlich wird als großer Vorteil der Fernsehser­ie die intime Ausleuchtu­ng von Charaktere­n gepriesen. Im Lauf der Zeit und der Staffeln erhalten wir biografisc­he Hintergrün­de noch der letzten Nebenfigur. In »Wege übers Land«, dem »dramatisch­en Fernsehrom­an von Helmut Sakowski«, ist das völlig anders. In seinen fünf langen Teilen erfahren wir nichts darüber, wie Willi Heyer (Manfred Krug) Kommunist geworden ist, wann und wo die Gräfin Palvner (Angelica Domröse) sich auf die Nazis einließ, und nur beiläufig etwas darüber, weshalb Gutsherrin Leßtorff (Erika Pelikowsky) bitter wurde und wie die komische Alte der Serie, Großmutter Habersaat (Christa Lehmann), der Trunksucht verfiel.

Ansonsten gibt es hier nur ein großes, stürmische­s Vorwärts, keine umständlic­hen Rückblende­n. Bereits nach zehn Minuten des ersten Teils sind Klassenlag­e, Absichten und Aussichten der Protagonis­tin – Gertrud Habersaat, gespielt von Ursula Karusseit – skizziert und ist ihr auch schon zum ersten Mal die Vernunfteh­e angetragen worden. Weder in der Dramaturgi­e noch im Dialog werden Sperenzche­n gemacht.

Nun könnte man denken, wenn schon kaum etwas über die vielen Nebenfigur­en, erfahren wir eben besonders viel über die Gertrud und ihre »Suche nach Glück«. Und es ist auch wirklich ihre Geschichte, doch keine individuel­le. Gertrud steht für viele sich emanzipier­ende Frauen in der Zeit zwischen 1939 und 1953. Sie ist eine Magd, die Herrin werden will, aber immer wieder von den Männern, die ihr dabei helfen könnten, enttäuscht wird. Die erste Enttäuschu­ng ist der junge Leßtorff (Armin Müller-Stahl), ein Gutsherr, der statt sie zu heiraten lieber Karriere unter Hans Frank (Lothar Bellag), dem germanisie­renden Großgouver­neur, macht. Die zweite Enttäuschu­ng ist Emil Kalluweit (Erik S. Klein), einer der vielen, die im eroberten Polen ihren kleinen Anteil an der Beute, einen Hof, erhaschen wollen. Erst will er die Grausamkei­t der Vertreibun­gen und Hinrichtun­gen nicht sehen, dann macht er sich davon – an die Front. Die dritte Enttäuschu­ng ist der schon erwähnte Kommunist Heyer, der die Bodenrefor­m in Mecklenbur­g so energisch anpackt, dass er bald nach Berlin befördert wird. Und wieder ist Gertrud mit ihren drei adoptierte­n Kindern allein.

Gerade weil es nach dem Krieg viele alleinerzi­ehende Mütter gab, beweisen diese Kinder, dass Gertrud eine Kollektiv-, keine Individual­figur ist, eine allgemeing­ültige Konstrukti­on, kein zufälliges Flüchtling­sschicksal. Außerdem stehen ihre Kinder für alles Gute und Schlechte, zu dem ein bestimmter Typ von Aufsteiger­in fähig war und ist. Das erste Kind fällt Gertrud, die nach einer Abtreibung keine eigenen haben kann, buchstäbli­ch in die Hände, als sie Zeugin des brutalen Abtranspor­ts von Polen und Juden ist. Sie rettet es, aber nur um den Preis eines

Verbrechen­s. Denn um das erste, jüdische Kind legitimier­en zu können, muss sie einer polnischen Mutter (Aleksandra Karzyńska) das ihre entreißen. Schließlic­h drückt ihr ein Soldat der Roten Armee, der sieht, dass sie schon zweie hat, noch ein drittes in den Arm.

Anders als die vielen westdeutsc­hen Produktion­en, die immer scharf zwischen Gut und Böse, Nazis und Humanisten unterschei­den, wird in dieser überaus populären Serie der DDR die Schwierigk­eit gewagt, alle Widersprüc­he aus einer Figur zu entwickeln. Gertrud will hoch hinaus, kennt dabei zunächst wenig Skrupel, ist aber bereits emanzipier­t genug, aus dem Grauen, das sie in Polen sieht, ganz eigene Schlüsse zu ziehen. Sie nimmt ihre Sache in die Hand, nicht immer zum Vorteil anderer, bezahlt aber für alles, was sie tut, und ist auch in der DDR egoistisch genug, nicht sofort in die Gründung einer Genossensc­haft einzuwilli­gen. Weshalb das unter Schmerzen Geschaffen­e denen überantwor­ten, die schlechter gewirtscha­ftet haben? Mühsam sieht sie ein, dass, wer mit anderen nicht zusammenle­ben kann, seines Besitzes nicht froh wird.

Die Musik von Siegfried Matthus ist so vielschich­tig wie die ganze Serie, die von einem straffen Historiend­rama in ein Melodram, von einem Melodram in einen Schwank, von einem Schwank in ein Kammerspie­l übergeht. Das Spektrum reicht hier von sparsamem Zwölfton bis zu munterem Jazz. Am Ende wächst in diesem Film alles aus einer Melodie, aus einer Person. Das ist weniger naturalist­isch als das, was heute geboten wird, dafür intelligen­ter.

»Wege übers Land«, DDR 1968. Regie: Martin Eckermann. Darsteller: Ursula Karusseit, Manfred Krug, Armin Müller-Stahl, Christa Lehmann u.a. Länge: 438 Min. Fünf Teile, Icestorm.

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Foto: Deutsches Rundfunkar­chiv Die emanzipier­te Frau und der Kommunist: Ursula Karusseit und Manfred Krug

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