Keine Sperenzchen
Westlern empfohlen: die 1968 in der DDR produzierte fünfteilige Serie »Wege übers Land«.
Gewöhnlich wird als großer Vorteil der Fernsehserie die intime Ausleuchtung von Charakteren gepriesen. Im Lauf der Zeit und der Staffeln erhalten wir biografische Hintergründe noch der letzten Nebenfigur. In »Wege übers Land«, dem »dramatischen Fernsehroman von Helmut Sakowski«, ist das völlig anders. In seinen fünf langen Teilen erfahren wir nichts darüber, wie Willi Heyer (Manfred Krug) Kommunist geworden ist, wann und wo die Gräfin Palvner (Angelica Domröse) sich auf die Nazis einließ, und nur beiläufig etwas darüber, weshalb Gutsherrin Leßtorff (Erika Pelikowsky) bitter wurde und wie die komische Alte der Serie, Großmutter Habersaat (Christa Lehmann), der Trunksucht verfiel.
Ansonsten gibt es hier nur ein großes, stürmisches Vorwärts, keine umständlichen Rückblenden. Bereits nach zehn Minuten des ersten Teils sind Klassenlage, Absichten und Aussichten der Protagonistin – Gertrud Habersaat, gespielt von Ursula Karusseit – skizziert und ist ihr auch schon zum ersten Mal die Vernunftehe angetragen worden. Weder in der Dramaturgie noch im Dialog werden Sperenzchen gemacht.
Nun könnte man denken, wenn schon kaum etwas über die vielen Nebenfiguren, erfahren wir eben besonders viel über die Gertrud und ihre »Suche nach Glück«. Und es ist auch wirklich ihre Geschichte, doch keine individuelle. Gertrud steht für viele sich emanzipierende Frauen in der Zeit zwischen 1939 und 1953. Sie ist eine Magd, die Herrin werden will, aber immer wieder von den Männern, die ihr dabei helfen könnten, enttäuscht wird. Die erste Enttäuschung ist der junge Leßtorff (Armin Müller-Stahl), ein Gutsherr, der statt sie zu heiraten lieber Karriere unter Hans Frank (Lothar Bellag), dem germanisierenden Großgouverneur, macht. Die zweite Enttäuschung ist Emil Kalluweit (Erik S. Klein), einer der vielen, die im eroberten Polen ihren kleinen Anteil an der Beute, einen Hof, erhaschen wollen. Erst will er die Grausamkeit der Vertreibungen und Hinrichtungen nicht sehen, dann macht er sich davon – an die Front. Die dritte Enttäuschung ist der schon erwähnte Kommunist Heyer, der die Bodenreform in Mecklenburg so energisch anpackt, dass er bald nach Berlin befördert wird. Und wieder ist Gertrud mit ihren drei adoptierten Kindern allein.
Gerade weil es nach dem Krieg viele alleinerziehende Mütter gab, beweisen diese Kinder, dass Gertrud eine Kollektiv-, keine Individualfigur ist, eine allgemeingültige Konstruktion, kein zufälliges Flüchtlingsschicksal. Außerdem stehen ihre Kinder für alles Gute und Schlechte, zu dem ein bestimmter Typ von Aufsteigerin fähig war und ist. Das erste Kind fällt Gertrud, die nach einer Abtreibung keine eigenen haben kann, buchstäblich in die Hände, als sie Zeugin des brutalen Abtransports von Polen und Juden ist. Sie rettet es, aber nur um den Preis eines
Verbrechens. Denn um das erste, jüdische Kind legitimieren zu können, muss sie einer polnischen Mutter (Aleksandra Karzyńska) das ihre entreißen. Schließlich drückt ihr ein Soldat der Roten Armee, der sieht, dass sie schon zweie hat, noch ein drittes in den Arm.
Anders als die vielen westdeutschen Produktionen, die immer scharf zwischen Gut und Böse, Nazis und Humanisten unterscheiden, wird in dieser überaus populären Serie der DDR die Schwierigkeit gewagt, alle Widersprüche aus einer Figur zu entwickeln. Gertrud will hoch hinaus, kennt dabei zunächst wenig Skrupel, ist aber bereits emanzipiert genug, aus dem Grauen, das sie in Polen sieht, ganz eigene Schlüsse zu ziehen. Sie nimmt ihre Sache in die Hand, nicht immer zum Vorteil anderer, bezahlt aber für alles, was sie tut, und ist auch in der DDR egoistisch genug, nicht sofort in die Gründung einer Genossenschaft einzuwilligen. Weshalb das unter Schmerzen Geschaffene denen überantworten, die schlechter gewirtschaftet haben? Mühsam sieht sie ein, dass, wer mit anderen nicht zusammenleben kann, seines Besitzes nicht froh wird.
Die Musik von Siegfried Matthus ist so vielschichtig wie die ganze Serie, die von einem straffen Historiendrama in ein Melodram, von einem Melodram in einen Schwank, von einem Schwank in ein Kammerspiel übergeht. Das Spektrum reicht hier von sparsamem Zwölfton bis zu munterem Jazz. Am Ende wächst in diesem Film alles aus einer Melodie, aus einer Person. Das ist weniger naturalistisch als das, was heute geboten wird, dafür intelligenter.
»Wege übers Land«, DDR 1968. Regie: Martin Eckermann. Darsteller: Ursula Karusseit, Manfred Krug, Armin Müller-Stahl, Christa Lehmann u.a. Länge: 438 Min. Fünf Teile, Icestorm.