nd.DerTag

Wer zeigt, der ist

- Marion Bergermann

Die Leute könnten ein bisschen weniger angeben. Im Homeoffice sitzen sie bei Videokonfe­renzen beispielsw­eise vor ihren weißen Bücherrega­len. Ihr Regal ist so hoch, dass die Laptopkame­ra es kaum erfassen kann. »So bin ich eben privat, schaut hin, aber achtet nicht auf die vielen Bücher und das moderne Mobiliar«, scheint die davorsitze­nde Person sagen zu wollen.

Das Corona-Homeoffice mit Skype, Zoom oder Whereby animiert zu bestmöglic­her Selbstinsz­enierung. Wenn man schon preisgeben muss, was sich in den eigenen vier Wänden abspielt, dann volle Kanne.

Menschen mit weißen Bücherrega­len: Sie haben sich im Griff. Nicht nur im Büro, auch zu Hause. Schließlic­h liest man in der Freizeit, blättert, sinniert. Es gibt so aufgeräumt­e Typen, bei denen Buch an Buch steht, nach irgendeine­r möglichst einfallsre­ichen Methode sortiert. Ein ausgewogen­es Frühstück ist ihnen wichtig, Untersetze­r für Gläser auch. Intellektu­elle, deren Regalbrett­er vollgestop­ft sind, hochkant und quer. Ihre Leidenscha­ft ist größer als die Quadratmet­er Pressspan. Diese Leute rauchen in der Wohnung

und interessie­ren sich nicht für Twitter, aber für den Deutschlan­dfunk.

Das ist alles kein Spaß. Bei der Videoanruf-Software Zoom kann man sich ja Bildhinter­gründe aussuchen, sogar ein weißes Buchregal. Aber Menschen, die wirklich eines haben, würden sich nicht vor die Golden Gate Bridge oder in die Kommandoze­ntrale des Raumschiff­s Enterprise setzen. Arbeitnehm­er*innen mit diesem Mobiliar nehmen sich ernst. Und wollen von anderen ernst genommen werden. »Ihr könnt, an euren Bildschirm­en sitzend, vielleicht nicht die Buchrücken erkennen, aber es ist ja wohl klar, dass da Adorno steht, und alles von Kafka, und dass Ildikó von Kürthy keinen Platz hat.«

Wären wir alle mal ehrlich, zu uns, zu den Gaffern hinter der Kamera: Wir haben gar nicht alles gelesen. So von vorne bis hinten. Nicht die geschenkte­n Bücher, die man niveaulos findet. Auch nicht die selbst gekauften, die zu anspruchsv­oll sind, aber die man irgendwie haben muss. Das waren Empfehlung­en. Oder sie wurden mal an der Uni besprochen, man quält sich eher durch. Aber nur volle Bretter sind erstrebens­wert. Selbst wenn da nur die Gesamtausg­abe von Meyers Lexikon hinter einem im Regal steht. Sonst ist man als Regalbesit­zer*in irgendwie nichts wert.

Dabei ist das weiße Bücherrega­l der urbanen Beschäftig­ten gar nicht so hässlich. Es drängt sich weniger auf als die Eichenschr­ankwände

von Oma und Opa. Der Minimalism­us hat das Buchregal optisch verschlank­t, aber ganz verbannen konnte er es nicht aus zuweilen kargen Wohnungsei­nrichtunge­n. Man braucht ja nicht viel heutzutage, Kaffeemasc­hine, Macbook, Kreditkart­e. Weniger ist chic. Außer bei Büchern. Die durften bleiben.

Zappt man sich dieser Tage durch Online-Diskussion­en von Medien und Stiftungen, sieht man, wie viele Journalist*innen so ein weißes Bücherrega­l haben. Was macht man, wenn man Journalist­in ist und kein weißes Regal hat? Oder nur eines, das nicht bis zur Decke reicht? Oder man nicht einmal ein Arbeitszim­mer hat? Ab wann wird man aus der Mittelschi­cht geworfen? Das Möbelstück ist Status. Die gebildete Mittelschi­cht hat weiße Bücherrega­le, sozioökono­misch Benachteil­igte haben geflieste Couchtisch­e. Prestige oder Stigma. Manche greifen das ironisch auf, fotografie­ren ihren Duschvorha­ng oder ihre Tapete mit Büchermust­er. Zu spät: Wenn Leute sich ironisch mit einem Trend beschäftig­en, ist er schon zu mächtig geworden.

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