Lektüretipp:
Frank und Fritz Schumann: Denkmale der Befreiung. Spuren der Roten Armee in Deutschland. Neues Leben, 256 S., geb., 32 €. Die Fotos auf den Seiten 15 bis 19 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem Band entnommen, der auch über den ndBuchshop zu beziehen ist. www.neues-deutschland.de/shop
Entschuldigung«, sagt die grauhaarige Frau, und die Abendsonne funkelt in ihren Brillengläsern. Ich erkenne sie wieder. Vor ein paar Minuten erst fragte ich sie, wo sich hier der sowjetische Friedhof befinde. Das Navigationsgerät meines Fahrzeugs war nicht auskunftsfähig. Sie wies mir den Weg: ein paar Hundert Meter und zweimal abbiegen. Auch hier der nahezu in allen Bundesländern anzutreffende Missstand: kein Schild, keine Tafel, kein Pfeil, der die Richtung zum Ehrenhain weist. Ich traf auf meiner Tour bisher höchstens mal auf ein braunes Zeichen mit der Aufschrift »Kriegsgräberstätte«. Dort lagen allerdings oft Soldaten anderer Nationen, keine gefallenen Rotarmisten, nach deren Spuren ich suchte.
An über 4000 Orten in Deutschland sind einstige Sowjetbürger bestattet: gefallene Soldaten, Kriegsgefangene, Zwangsdeportierte und deren Kinder. Es gibt auch Friedhöfe im Osten, auf denen Militärs ihre letzte Ruhestätte fanden, die in der DDR gedient hatten – und deren Familienangehörige. Wie Katja K., deren Grabstein ich auf dem Magdeburger Westfriedhof zwischen mit Moos überzogenen Platten entdeckte: verstorben am 12. Mai 1989, gerade mal ein Jahr alt.
Mich interessierten jedoch vornehmlich die Friedhöfe und Gedenkorte für jene Soldaten, die Opfer des deutsch-faschistischen Terrorstaates geworden waren. Grabsteine, Massengräber, Obeliske, Denkmale der Befreiung. Die Bundesregierung hatte sich im Prozess der deutschen Vereinigung zu deren Bewahrung verpflichtet. Zum Zwei-plusVier-Vertrag, der Vereinbarung der beiden deutschen Staaten und der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, vom September 1990 gehört ein Gemeinsamer Brief der beiden deutschen Außenminister, HansDietrich Genscher und Oskar Fischer, an die vier Kollegen der einstigen Anti-HitlerKoalition. Darin versicherten sie: »Die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, werden geachtet und stehen unter dem Schutz deutscher Gesetze. Das Gleiche gilt für die Kriegsgräber, sie werden erhalten und gepflegt.« Ohne dieses Bekenntnis hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Steht die Bundesrepublik zu dem vor 30 Jahren gegebenen Wort? Es wäre nicht das Einzige, was gebrochen wurde. Denken wir nur an die Osterweiterung der NATO.
Fälle wie jener in Sandbostel waren mir allerdings nicht zu Ohren gekommen. Dort, auf halbem Wege zwischen Hamburg und Bremen, war im Sommer 1939 – also noch vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges – ein Internierungslager für Kriegsgefangene eingerichtet worden. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion zwei Jahre darauf wurden hier Zehntausende Rotarmisten eingepfercht. Man ließ sie, wie in anderen Lagern, verhungern, verdursten oder sich zu Tode schuften. Nicht wenige wurden willkürlich erschossen, ebenfalls wie anderorts. 4000 Rotarmisten wurden allein am Schießstand der SS in Hebertshausen bei Dachau niedergemäht. Einsatzkommandos der Gestapo hatten sie in den Lagern der Wehrkreise München, Nürnberg, Stuttgart, Wiesbaden und Salzburg nach ideologischen und rassistischen Kriterien »ausgesondert«: Kommissare, Juden und Angehörige der Intelligenz. Heute wissen wir: Nächst den Juden waren die sowjetischen Kriegsgefangenen die zahlenmäßig stärkste Opfergruppe des deutschen Faschismus. Das wird gern verdrängt. Die Gedenkstätte in Hebertshausen gibt es erst seit 2014.
Doch zurück zu den in Sandbostel ermordeten »Russen«. Die SS verscharrte sie in Massengräbern neben dem Lager. 1945 wurde dort auf Initiative der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) ein sieben Meter hohes Mahnmal errichtet. Auf einer daran angebrachten Tafel war in Russisch, Englisch und Deutsch zu lesen: »Hier ruhen 46 000 russische Soldaten und Offiziere. Zu Tode gequält in der Nazigefangenschaft.« 1956 ließ die Landesregierung von Niedersachsen das Denkmal sprengen. Die Begründung: Die Zahl der Opfer sei falsch. Kalte deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit eben. Mit Antikommunismus hatte das überhaupt nichts zu tun?
Dergleichen despektierliches, unverschämtes Vorgehen ist nach dem Abzug der Soldaten und Offiziere der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland in den 90er Jahren nicht publik geworden, das hätte die Öffentlichkeit diesmal wohl auch nicht durchgehen lassen. Provokationen à la »Bild« und »B.Z.« aus dem Hause Springer liefen ins Leere. Die beiden Boulevardzeitungen hatten