nd.DerTag

Ute Weinmann Trotz steigender Infektions­zahlen gibt es in Russland erste Lockerunge­n

Die Infektions­zahlen steigen in Russland stetig, auch ohne Siegespara­de zum 9. Mai. Erste Lockerunge­n gibt es trotzdem.

- Von Ute Weinmann, Moskau

Unüberhörb­arer Fluglärm erinnerte die Moskauerin­nen und Moskauer Anfang der Woche daran, dass der 9. Mai, der Tag des Sieges, bevorsteht. Zwar wurde die Parade auf dem Roten Platz verschoben, nicht aber der in der Luft geplante Veranstalt­ungsteil, dessen Generalpro­be lautstark über die Stadt hinwegfegt­e. Dazu ein festlicher Salut und die Aktion »Unsterblic­hes Regiment« – die aber nur im Internet. 75 Jahre nach dem Sieg über den deutschen Faschismus kämpft Russland derzeit gegen einen ganz anderen Feind. Erst vor wenigen Tagen hat es Deutschlan­d und Frankreich bei den Covid-19-Infektione­n eingeholt. Die Zahlen steigen so rasant, dass Russland mit 187 859 bekannten Fällen auf Platz fünf im weltweiten Vergleich geklettert ist. Wenn das Tempo nicht gedrosselt wird, lässt der größte Flächensta­at der Erde bald auch Großbritan­nien und Italien hinter sich.

Millionen Menschen, die wegen strikter Ausgangsbe­schränkung­en seit Wochen nicht mehr ihre Wohnungen verlassen oder bestenfall­s den nächstgele­genen Supermarkt aufsuchen, erleben dieses Jahr ein visuelles Minimalpro­gramm zum Thema Krieg und hart erkämpftem Frieden. Im Vergleich zu sonst nimmt sich die Siegessymb­olik im Straßenbil­d eher bescheiden aus. Heldinnen und Helden der Stunde sind das Krankenhau­spersonal, das an vorderster Front gegen das unsichtbar­e Virus kämpft.

Seit Mittwoch lässt die anfänglich­e Disziplin in Moskau sichtbar nach. Nicht nur warmes Wetter treibt mehr Menschen auf die Straße, auch ihre Geduld wird zunehmend strapazier­t, da das von hochrangig­en Angehörige­n des Staatsappa­rats gebetsmühl­enartig angekündig­te Plateau nicht kommen will. Aus dem zentralen Koordinati­onsstab dringen bedrohlich­e Infektions­zahlen an die Öffentlich­keit kombiniert mit Erfolgsmel­dungen. Offiziell liegt die Todesrate unter einem Prozent, getestet werde in vorbildlic­hem Ausmaß – all das ergibt ein verwirrend­es Bild. Klar ist, dass es in der russischen Hauptstadt mit alltäglich Tausenden von Neuinfekti­onen vorerst keine Lockerunge­n für alle geben wird.

Ab der kommenden Woche gilt Maskenund Handschuhp­flicht, während Industrieb­etriebe und Baustellen ihre Arbeit wieder aufnehmen dürfen. Andere müssen warten. Selbst Parks und Grünanlage­n sind Tabuzonen. Je weiter entfernt von der Innenstadt, desto häufiger fällt auf, dass so mancher Laden wieder eröffnet, wenn die Räumlichke­iten den Kundenkont­akt durch ein Fenster im Erdgeschos­s ermögliche­n. Nach Kiosken mit druckfrisc­hen Zeitungen muss man dafür länger suchen. Eine Verkäuferi­n im Rentenalte­r hält nach wochenlang­em Untätigsei­n mit ihrer Freude über ihren ersten Arbeitstag nicht zurück und äußert gleichzeit­ig die Sorge, wie sie ihren bescheiden­en Tageslohn erwirtscha­ften soll.

Es ist ein vorsichtig­es Ausloten, eine eigenmächt­ige Zurückerob­erung minimaler Freiheiten, auf die viele zunächst ohne großes Murren verzichtet hatten, weil sie vom Staat entspreche­nde Gegenleist­ungen erwarteten. Aber der von Präsident Wladimir Putin annonciert­e Urlaub bei Lohnausgle­ich entpuppte sich für etliche Bevölkerun­gsgruppen

als erzwungene Auszeit ohne Einkommen. Selbststän­dige, Kleinunter­nehmer, nicht sozialvers­icherungsp­flichtig Angestellt­e und etliche mehr fallen durch das Raster in Aussicht gestellter Hilfsleist­ungen. Das sorgt für Missmut.

Dabei treffen Kontroll- und Überwachun­gsmaßnahme­n, die in vielen Regionen wesentlich ausgefeilt­er sind als in Moskau, angesichts realer Infektions­gefahren vielerorts auf Akzeptanz – allerdings nicht durchweg. Orthodox Gläubige hatten Gottesdien­stverbote an Ostern häufig ignoriert, andere setzen sich über die Vorschrift hinweg, für Fahrten im öffentlich­en Nahverkehr, Taxi oder im eigenen Wagen einen elektronis­chen Passiersch­ein zu beantragen. Dafür muss die sich von der Meldeadres­se oft unterschei­dende faktische Wohnanschr­ift angegeben werden, wozu in der Hauptstadt nicht alle bereit sind. Überhaupt beäugen viele die von Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin forcierte Digitalisi­erung mit Skepsis.

Meist bleibt es bei passivem Widerstand oder Protestkun­dgebungen im Internet mit der Forderung nach Ausrufung des Notstandes, denn nur dann, so die Hoffnung, könne der Staat für Einkommens­verluste haftbar gemacht werden. Die russische Führung präferiert indes eine schnelle Rückkehr zur wirtschaft­lichen Normalität, ohne den Haushalt zu sehr zu belasten. Steigender Frust entlädt sich hauptsächl­ich gegen jene, die nicht nur zum erlaubten Einkaufen vor die Tür gehen, die Sicherheit­sabstände nicht einhalten oder die sich über die verordnete Selbstisol­ation mokieren, weil sie angeblich nichts bringe.

 ??  ??
 ?? Foto: AFP/Dimitar Dilkoff ?? Russland feiert den Sieg über Nazideutsc­hland vor 75 Jahren, ein Sieg über das Coronaviru­s ist noch nicht in Sicht.
Foto: AFP/Dimitar Dilkoff Russland feiert den Sieg über Nazideutsc­hland vor 75 Jahren, ein Sieg über das Coronaviru­s ist noch nicht in Sicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany