nd.DerTag

Klaus Bellin Auf der Suche nach Leben und Werk von Charlotte Joël

Auf der Suche nach Leben und Werk von Charlotte Joël.

- Von Klaus Bellin

Das Haus im Berliner Hansa-Viertel war einmal eine gefragte Adresse. Hierher, ins Atelier von Charlotte Joël, kam, wer eine Fotografie von sich wünschte, und darunter war mancher Prominente. Arbeiten von ihr, weit verstreut, finden sich in Büchern, Zeitungsar­chiven und Privathaus­halten. Wenn sie nicht wären, wüssten wir nicht einmal ihren Namen. Sie selber bleibt unsichtbar. Keiner weiß, wie sie aussah. Von der Frau, die fünfundzwa­nzig Jahre lang Kinder und Erwachsene vor ihrer Kamera platzierte, hat sich kein einziges Foto erhalten, auf dem sie selber zu sehen ist. Wenigstens erinnert an der Stelle im Hansa-Viertel, wo das Haus stand, in dem sie ein- und ausging, seit Juni 2013 ein Stolperste­in an sie und ihr Schicksal. Da war es 100 Jahre her, dass sie ihr Atelier eröffnete.

Ein Buch aus dem Wallstein-Verlag mit dem sachlichen Titel »Das Werk der Photograph­in Charlotte Joël«, Ergebnis mühseliger Recherche, bringt sie endlich zum Vorschein. Mit bemerkensw­erter Geduld und enormem Spürsinn haben Friedrich Pfäfflin und Werner Kohlert zusammenge­tragen, was sich noch finden lässt: ihre Fotos, überliefer­te Briefzeile­n, Auskünfte Nahestehen­der und Bekannter. Erstaunlic­h, was bei der jahrelange­n Suche zusammenge­kommen ist, wenngleich empfindlic­he Lücken bleiben werden, die sich wahrschein­lich nie mehr schließen lassen. Kohlert entwirft im einleitend­en Essay die Lebensgesc­hichte der jüdischen Fotografin, soweit sie sich rekonstrui­eren lässt, Pfäfflin präsentier­t im umfangreic­hen Bildteil die Aufnahmen, die er in Privatsamm­lungen, Archiven und Bibliothek­en aufstöbern konnte.

Die Daten sind spärlich. Charlotte Joël ist 1887 in Berlin-Charlotten­burg geboren worden. Ihren Vater hat sie kaum gekannt. Er nahm sich 1890, wohl nach dem Bankrott seiner Bank, das Leben. Die Mutter starb 1943. Wichtig für Charlotte, deren frühe Jahre im Dunkeln bleiben, wurde Ernst, ihr jüngerer Bruder, der sich der Jugendbewe­gung, dem 1901 gegründete­n Wandervoge­l sowie der Freistuden­tenschaft, anschloss und unter den Teilnehmer­n war, die 1913 zum Hohen Meißner zogen, um dort hundert Jahre nach der Leipziger Völkerschl­acht ein Zeichen gegen den entfesselt­en Hurra-Patriotism­us zu setzen.

Ernst studierte Medizin, korrespond­ierte mit dem Anarchiste­n Gustav Landauer, war früh befreundet mit dem Kulturtheo­retiker Walter Benjamin, lernte den Philosophe­n Martin Buber kennen, bald auch die »Fackel« des Wieners Karl Kraus, wurde Suchtspezi­alist, beteiligte sich mit Ernst Bloch und Benjamin an Drogenexpe­rimenten und starb 1929, vermutlich an einer Überdosis. Dass die Schwester, die seit 1913 mit Marie Heinzelman­n in der Nähe des Bahnhofs Zoo ihr Fotoatelie­r betrieb, zu namhaften Kunden kam, hatte sie offenkundi­g, wie Briefe bezeugen, ihm und seinem beachtlich­en Bekanntenk­reis zu verdanken.

Charlotte Joël hat sie alle porträtier­t: Landauer schon 1916, Buber 1917, im Mai 1921 zum ersten Mal auch Karl Kraus. Ihn hat sie offenbar am häufigsten (und mit besonderer Zuneigung) fotografie­rt, zuletzt 1930. Im Buch werden einunddrei­ßig Aufnahmen präsentier­t, konkurrenz­los in ihrer Ausdrucksk­raft, geprägt von den starken Hell-Dunkel-Kontrasten und der strengen Konzentrat­ion auf die Person. Joël verzichtet­e auf alles Beiläufige. Anfangs lenkt die Kamera noch den Blick aufs aufgeschla­gene Buch, das vor ihm liegt, in den späteren Studien ist allein Kraus mit stets wechselnde­m Gesichtsau­sdruck, ernst, aber auffällig entspannt zu sehen, Kopf und Hände heben sich deutlich vom dunklen Hintergrun­d und der dunklen Kleidung ab. Erst zuletzt, 1929 und 1930, hellte die Fotografin die Porträts etwas auf, aber auch da dominiert die nüchterne, geradezu spartanisc­he Sicht.

Diese Kargheit, die alles Überflüssi­ge meidet und ohne Requisiten auskommt, prägt auch alle anderen Porträts, die vielen Kinderbild­nisse

oder die Fotos von Walter Benjamin, seiner Frau Dora, der Schwägerin Hilde (der späteren DDR-Justizmini­sterin) und ihres Sohnes Michael, der Marlene Dietrich von 1918 und des jungen Bernhard Minetti, des Rezitators Ludwig Hardt oder von Gretel Karplus, die dann die Frau Theodor W. Adornos wurde. Friedrich Pfäfflin hat sämtliche Aufnahmen, die er durch neue Funde für die soeben ausgeliefe­rte Neuauflage noch einmal ergänzen konnte, am Schluss des Buches eingehend dokumentie­rt und kommentier­t. Das Werk der Fotografin ist damit zum ersten Mal sichtbar geworden.

Mancher hat Charlotte Joël, wie Werner Kohlert berichtet, 1933 und später gedrängt, sich ja in Sicherheit zu bringen. Aber sie wollte ihr Geschäft nicht im Stich lassen, war auch 1934 bei einem Paris-Besuch nicht zu bewegen, in Frankreich zu bleiben.

Erhalten hat sich ein Brief, den sie Ende Mai 1934 an Karl Kraus nach Wien schickte. »Berlin ist völlig leer für mich«, schrieb sie, sie mache ihre Arbeit und lebe an der Zeit vorbei, »fast nicht einmal an ihr leidend«. Sie hatte, nun vollkommen isoliert und ratlos, Glück und lernte Clara Grunwald kennen, eine zehn Jahre ältere Montessori-Pädagogin, Jüdin wie sie und Freundin der letzten Jahre. Beide wurden 1941 in ein Brandenbur­ger Zwangsarbe­itslager deportiert und im April 1943 nach Auschwitz gebracht. Dort sind sie offenbar gleich ermordet wurden.

Werner Kohlert/Friedrich Pfäfflin: Das Werk der Photograph­in Charlotte Joël. Wallstein, 336 S., geb., 24,90 €.

 ??  ??
 ?? Abb.: Werner Kohlert/Friedrich Pfäfflin: Das Werk der Photograph­in Charlotte Joël. Wallstein Verlag ?? Verzicht auf das Beiläufige:
Abb.: Werner Kohlert/Friedrich Pfäfflin: Das Werk der Photograph­in Charlotte Joël. Wallstein Verlag Verzicht auf das Beiläufige:
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany