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Velten Schäfer über das deutsche Erinnern an die Rote Armee

Velten Schäfer

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Über den früheren Bundespräs­identen Joachim Gauck konnte und kann man gewiss viel Kritisches sagen. Eines aber ist ihm hoch anzurechne­n: Zum 8. Mai 2015, als sich seine Amtszeit allmählich dem Ende näherte, besuchte er das frühere Strafgefan­genenlager 326 Senne bei Bielefeld, Hand in Hand mit dem damals 93-jährigen Lev Frankfurt, einem Überlebend­en.

Allein an diesem »Schreckens­ort«, so sagte es damals Gauck, saßen bis 1945 über 300 000 Kriegsgefa­ngene der Roten Armee ein, von denen Zehntausen­de ihr Leben verloren. Zu einer Zeit, als der Konflikt um die Krim und in der Ostukraine für erhitzte Gemüter sorgte, forderte Gauck als erstes bundesdeut­sches Staatsober­haupt, das Schicksal der sowjetisch­en Kriegsgefa­ngenen »aus dem Erinnerung­sschatten« zu holen.

Selbst die tödliche Bilanz des Krieges im Osten ist unklar: Fielen sieben oder 13 Millionen Sowjetbürg­er in Uniform? Wurden 14, 15 oder 20 Millionen Zivilisten ermordet? Weit über drei Millionen kamen allein in deutscher Kriegsgefa­ngenschaft um. Als »Kommuniste­n« und »Untermensc­hen« malträtier­t, bilden allein diese Kriegsgefa­ngenen die zweitgrößt­e Opfergrupp­e des Nazireichs, nach Europas Juden. Gleich diesen wurden viele Sowjetsold­aten auch in Konzentrat­ionslager verschlepp­t. Der Massenmord mit Zyklon B wurde im Herbst 1941 in Auschwitz an Offizieren und Kommissare­n der Roten Armee »erprobt«.

Hat sich jener »Erinnerung­sschatten« fünf Jahre später gelichtet? Die Coronakris­e enthebt den aktuellen Präsidente­n vorläufig der Frage, ob er der Einladung zur Moskauer Siegespara­de folgt, die am heutigen 9. Mai geplant war und verschoben wurde. Frank Walter Steinmeier wird, wenn dieser Text erscheint, mit Kanzlerin und weiterer Staatsprom­inenz an der Berliner »Neuen Wache« einen Kranz niedergele­gt haben. Dort, wo schon Preußens Könige ihre Siege feierten. Und wo seit der jüngsten Umwidmung der »Opfer von Krieg und Gewaltherr­schaft« gedacht wird: am unspezifis­chsten Erinnerung­sort des Landes.

Ist das Corona-Pragmatism­us – oder eine Geste? Blitzte dagegen in Gaucks Hinwendung etwas Ostdeutsch­es auf? Die Erinnerung an die Befreiung ist weiterhin gespalten: Den D-Day feiert das dominante WestGedäch­tnis inzwischen fast so, als wär’s ein eigener Sieg gewesen. An Gaucks gefangenen Rotarmiste­n aber interessie­rt es, wenn überhaupt etwas, nur der – freilich bestürzend­e – Umstand, dass Stalin sie oft ein zweites Mal bestrafte.

Als 2014 die Krimkrise zeigte, dass Russland im Osten echte, verwurzelt­e Sympathie genießt, fiel der Westen aus allen Wolken. Gelten in seiner Erinnerung doch die »Russen« nicht als Befreier, sondern als Besatzer. Als Vergewalti­ger – obwohl, pro Kopf gerechnet, US-Truppen nicht weniger Übergriffe begingen. Man denkt an wilde Horden aus dem Osten, die requiriert­e Villen verwüstete­n und »klauten« wie die Raben.

In etwa Letzteres schrieb in seinem Memoiren auch Joachim Gauck. Das war nur drei Jahre vor seinem Amtsantrit­t. Und dies lässt immerhin eines hoffen: dass es immer möglich sei, am Erinnern zu arbeiten.

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