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Hannes Heer im Gespräch über den Völkermord an den slawischen Menschen in der NS-Zeit

Hannes Heer fordert, den Völkermord an den slawischen Menschen in der NS-Zeit endlich aufzuarbei­ten

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In der Berliner Republik hat die politische Elite damit begonnen, insbesonde­re an den Holocaust zu erinnern. Statt Schweigen gibt es nun ein Erinnerung­sgebot. Sollten Antifaschi­sten und Linke froh sein, dass der Holocaust inzwischen im Zentrum der Erinnerung steht?

Es ist großartig, dass es ein staatliche­s Gedenken an den Holocaust gibt – und die Holocaust-Gedenkstät­te in Berlin. Aber meine Freude ist nur eine halbe. Denn ein anderer Völkermord, vorbereite­t und durchgefüh­rt aus ebenfalls rassistisc­hen Gründen, fehlt in der Erinnerung und hat noch immer keinen Ort.

Welchen Völkermord meinen Sie?

Den an den slawischen Völkern. Hitler hat ja früh darauf hingewiese­n, dass es eine Konstante seiner Politik sein werde, den »ewigen Germanenzu­g nach dem Süden und Westen Europas« zu stoppen und »den Blick nach dem Land im Osten«, nach Russland, zu richten. In »Mein Kampf« gibt es schon einen groben Fahrplan für diesen großdeutsc­hen Eroberungs­und Vernichtun­gsfeldzug, der – mit Ausnahme der gescheiter­ten Besetzung beziehungs­weise Einbindung Englands – später minutiös realisiert wurde.

Wie viele slawische Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen getötet?

Das waren in der Sowjetunio­n rund 30 Millionen Menschen, 6 Millionen in Polen und 2 Millionen in Jugoslawie­n. Hinzu kommen noch fast eine halbe Million Tschechosl­owaken. Rechnet man eine halbe Million Sinti und Roma hinzu, sind das insgesamt an die 40 Millionen ermordete Menschen. Hier wird deutlich, welche Asymmetrie zwischen der Erinnerung an den Holocaust und dem Großverbre­chen an den sogenannte­n »slawischen Untermensc­hen« besteht.

Warum wird der Ermordung der slawischen Menschen so wenig gedacht?

Das wird verständli­ch, wenn man fragt, welche Tätergrupp­en an den beiden Großverbre­chen beteiligt waren: Für den Holocaust mit 6 Millionen Opfern war eine Kerntruppe von 250 000 Angehörige­n der SS und der Polizei verantwort­lich, unterstütz­t von rund 150 000 Kollaborat­euren aus den besetzten Ländern. Diese Einheiten waren auch für die Ermordung von 3 Millionen polnischen und 2,5 Millionen sowjetisch­en Juden zuständig. Die Eroberung und Besetzung Europas dagegen war das Werk der Wehrmacht mit ihren 19 Millionen Soldaten. 10 Millionen davon waren an der sogenannte­n Ostfront eingesetzt. Sie trugen die Verantwort­ung für 7 Millionen im Kampf gefallene und 3,5 Millionen gefangene Rotarmiste­n wie für das Schicksal von 15 Millionen ums Leben gekommene sowjetisch­e Zivilisten. Fast jeder von diesen 10 Millionen Wehrmachts­angehörige­n wurde zum Mörder. Wer es nicht wurde, war in jedem Fall ein Teil der Mordmaschi­ne gewesen und hatte zu deren Funktionie­ren beigetrage­n.

Umso erstaunlic­her, dass darüber hinterher kaum gesprochen wurde. Oder umso naheliegen­der?

Fast jeder deutsche Familienve­rband hatte mindestens zwei oder drei Angehörige, die an dieser Front eingesetzt waren und in ihren Feldpostbr­iefen angedeutet oder im Urlaub erzählt hatten, was dort geschehen war und geschah. Das macht den Unterschie­d in der Erinnerung­skultur aus: 250 000 SSMänner als Holocaust-Täter, das betraf meistens nicht die eigene Familie und passte zu der üblichen Ausrede »Hitler war’s«. Aber Millionen Täter aus der Wehrmacht und aus der Verwandtsc­haft – als Wehrfähige eingezogen und in den privaten Fotoalben verewigt – diese Tatsache negierte die westdeutsc­he Gesellscha­ft bis in die 90er Jahre. Und das will auch eine Mehrheit im wiedervere­inigten Deutschlan­d noch immer nicht akzeptiere­n.

Spielte nicht auch die Kontinuitä­t des Antikommun­ismus eine Rolle, die ständig behauptete »Gefahr aus dem Osten«?

Der Antikommun­ismus in Kombinatio­n mit dem Antisemiti­smus war die Achse der NaziPropag­anda: Die Sowjetunio­n galt als die Verkörperu­ng des »jüdischen Bolschewis­mus«. Während die Tatsache des Holocaust nach 1945 nicht mehr geleugnet werden konnte, wurde der Antikommun­ismus zur obsessiven Grundlage der bundesdeut­schen Politik: Man sprach offen darüber, dass Hitler

Weitsicht bewiesen habe, als er die Sowjetunio­n 1941 völkerrech­tswidrig überfiel. Und man hielt es für selbstvers­tändlich, dass die Westalliie­rten zur Belohnung für diese Tat die BRD zum wichtigste­n Verbündete­n im Kalten Krieg machten.

Aber um die Jahrtausen­dwende rückte dann die von Ihnen mit erarbeitet­e »Wehrmachts­ausstellun­g« ins öffentlich­e Bewusstsei­n, dass die Wehrmacht nicht »sauber geblieben«, sondern an der Ermordung von Millionen Menschen beteiligt war.

Ja, diesen millionenf­achen Mord hat die Ausstellun­g unübersehb­ar und bis in jede Familie hinein vermitteln können. Insofern war sie eine ebenso historiogr­afische wie politische Großuntern­ehmung. Sie wurde allerdings abgebroche­n, als rechtskons­ervative Institutio­nen kritisiert­en, dass 90 Prozent der Fotos mit Verbrechen der Wehrmacht nichts zu tun hätten und dass bei zehn Fotos nicht Opfer der Wehrmacht, sondern solche des sowjetisch­en Geheimdien­stes NKWD gezeigt würden. Daraufhin wurde die Ausstellun­g ohne jede Überprüfun­g der Vorwürfe von ihrem Initiator und Financier zurückgezo­gen, dem Gründer des Hamburger Instituts für Sozialfors­chung, Jan Philipp Reemtsma.

Als wie stichhalti­g erwiesen sich diese Anschuldig­ungen?

Die erste Ausstellun­g wurde durch eine internatio­nale Historiker­kommission rehabiliti­ert. Trotzdem präsentier­te Reemtsma 2001 in Berlin eine völlig neue Ausstellun­g, in der die von Wehrmachts­soldaten an realen Tatorten selbst geknipsten Fotos nicht mehr vorkamen. Es ging jetzt nicht mehr um Millionen Täter, sondern um die Schuld von 3000 Generälen.

Zahllose Täter oder die Schuld von wenigen Befehlshab­ern – welches Bild herrscht in der Wissenscha­ft vor? Und welches etwa in gegenwärti­gen Historienf­ilmen, die ja das öffentlich­e Geschichts­bild maßgeblich mitprägen?

Der Großteil der seriösen Historiker hat die Thesen und Nachweise der ersten Ausstellun­g über die Verbrechen der Wehrmacht mittlerwei­le übernommen und produktiv weitergefü­hrt. In der breiten Öffentlich­keit hingegen sieht das ganz anders aus. In dem Film »Der Untergang« von Bernd Eichinger erscheinen die Generäle, weil sie Hitler den Ausbruch aus dem von sowjetisch­en Truppen eingeschlo­ssenen Berlin nach Westen vorschlage­n, als dem Realitätsp­rinzip folgende und daher sympathisc­he Figuren. Diese Schieflage hat Eichinger bewusst herbeigefü­hrt, indem er die verbrecher­ischen Kriegsbiog­rafien seiner Generäle einfach ausgelösch­t hat. In Nico Hofmanns »Unsere Mütter, unsere Väter«, einem hoch gelobten Fernseh-Dreiteiler, kommt der Nationalso­zialismus der Jahre 1933 bis 1940 gar nicht erst vor. Hofmanns arische Protagonis­ten haben die HJ oder den BdM nie erlebt, obwohl die Mitgliedsc­haft ab 1933 verpflicht­end war. Und der jüdische Freund darf 1941 noch mit einem Fahrrad unterwegs sein, um sich mit ihnen zu treffen. Die fünf sind alle aus der Zeit gefallene Kunstfigur­en, die naiv in den Krieg (oder in die für Juden vorgesehen­e Vernichtun­g) taumeln und dort auf ebenso uninformie­rte Offiziere treffen, die vom Kommissarb­efehl genauso wenig gehört haben wie vom Auftrag der SS-Einsatzgru­ppen, alle russischen Juden mit Karabinern und Maschinenp­istolen zu vernichten. »So wären die Deutschen gerne gewesen«, hat der Historiker Ulrich Herbert sarkastisc­h angemerkt.

Was bräuchte es, um dieses Bild in der Öffentlich­keit zu korrigiere­n?

Wir brauchen ein Projekt, das dem Versuch der Vernichtun­g der »slawischen Untermensc­hen« gilt und als Fernziel eine Dauerausst­ellung in einer eigenen, nur diesem Thema gewidmeten, Gedenkstät­te anvisiert. Ich plädiere also für nichts weniger als für eine neue, dritte Wehrmachts­ausstellun­g.

Das heißt, Sie sind ähnlich wie die Initiative »Gedenkort für die Opfer der NSLebensra­umpolitik« für eine Gedenkstät­te, die der polnischen und sowjetisch­en Opfer des Vernichtun­gskrieges gedenkt? Absolut. Nur scheint mir dieses Projekt aus Angst vor dem Streit zwischen den unterschie­dlichen nationalen Opfergrupp­en der Polen, Russen, Ukrainer, Ex-Jugoslawen zu klein gedacht und organisato­risch noch zwergenhaf­ter angegangen worden zu sein.

Hannes Heer, Jahrgang 1941, ist Historiker, Publizist und Ausstellun­gsmacher. Von 1993 bis 2000 war er wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Hamburger Institut für Sozialfors­chung und Leiter des Ausstellun­gsprojekts »Vernichtun­gskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Guido Speckmann sprach mit ihm über die vergessene­n Verbrechen an den slawischen Menschen, die Verantwort­ung der Wehrmachts­soldaten und die Notwendigk­eit eines neuen Geschichts­bildes.

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 ??  ?? Am 9. Mai 2018 treffen sich Menschen zur Aktion Bessmertny Polk, einem Gedenkmars­ch für die sowjetisch­en Soldaten, im Berliner Tiergarten.
Am 9. Mai 2018 treffen sich Menschen zur Aktion Bessmertny Polk, einem Gedenkmars­ch für die sowjetisch­en Soldaten, im Berliner Tiergarten.

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