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Aleksandr Iwanowitsc­h Kusnezow Erzählung eines Rotarmiste­n

Wie Aleksandr Iwanowitsc­h Kusnezow den Berliner Reichstag eroberte – und endlich feiern konnte

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Im Frühjahr 1945 drang die 1. Belorussis­che Front bis zur Oder vor, und wir bauten unsere Stellung aus. Die Deutschen griffen die ganze Zeit über an. Unweit unseres Standorts befanden sich die zweite und die dritte Verteidigu­ngslinie der 3. Stoßarmee. Ich war Zugführer bei der Infanterie.

Es lag Schnee, Eis trieb auf dem Fluss, und unsere Jungs bauten eine Pontonbrüc­ke. Ich sah sie im Fernglas, eineinhalb Kilometer von uns entfernt. Über die Brücke fuhren dann Panzer und Lastwagen. Am Anfang waren nirgends Deutsche zu sehen, aber dann trafen wir sie. Sie liefen weg. Einige blieben auch stehen, warfen ihre Waffe weg und rissen die Arme hoch. Wir stießen fast die ganze Nacht lang voran – 72 Kilometer, fast ohne Kämpfe. Wir umgingen die Seelower Höhen und bewegten uns von Norden auf Berlin zu. In der Stadt Werneuchen, rund 20 Kilometer von Berlin entfernt, durften wir acht Tage ausruhen, um uns auf den Sturm auf die deutsche Hauptstadt vorzuberei­ten.

Dann kam der Befehl: »Aufsitzen!« In nur einer Stunde brachten uns die Lastwagen nach Berlin, an den Stadtrand, wir sahen die ersten Gebäude. Und schon ging es los: Wir, eine kleine Abteilung mit wenig Mann, erstürmten Straßen, Häuser und Keller. Es gab einige gefährlich­e Momente. Der Regimentss­tab orientiert­e sich an Karten, uns gab man sie nur zur Orientieru­ng für den Fall, dass wir auf einer Straße stehen oder uns in Kellern verstecken mussten. Das Ganze war ein schrecklic­her Fleischwol­f. Es hieß, manch eine Sturmabtei­lung ging los und von den fünf bis sieben Mann kehrten nur zwei oder drei zurück. Ich war sieben Mal unmittelba­r an den Kämpfen einer solchen Sturmgrupp­e beteiligt, Tag und Nacht. Es gab keine Zeit zum Schlafen, nur manchmal einen glückliche­n Moment des Schlummern­s.

Dreckig sahen wir aus. Wir konnten uns ja nicht waschen, griffen nur in den Kellern, wo die Bewohner ihre Vorräte hatten, etwas vom Eingeweckt­en, Kirschmarm­elade oder so was. Ich erinnere mich an keine Straßennam­en, es gab nur Beschuss, rechts und links. Das einzig Wichtige war, dass die Maschinenp­istole funktionie­rte … Erst als es hell war, sahen wir den Dreck im Gesicht des anderen, die roten Augen und die Zähne. Richtige Wilde waren wir geworden.

Diese zwei Wochen lief alles auf eins hinaus: den Feind zu schlagen. Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Der Regimentsk­ommandeur war schon 62 Jahre alt, ein Kommandeur aus dem Bürgerkrie­g. Gebildet, hatte viel gesehen im Leben und kam in jeder Lage zurecht, auch ohne Karte. Ich war 19.

Warum die Deutschen im letzten Moment noch so stark Widerstand leisteten? Es war eben nicht jedem von ihnen klar, dass schon alles aus war. Sie kämpften für ihre Heimat, genauso, wie wir für unsere gekämpft hatten. Ich verstand sie sogar. Aber es war eben Krieg, und wir hatten unseren Befehl. Die 3. Stoßarmee sollte bis zum Reichstag vordringen und ihn einnehmen.

Und schließlic­h sahen wir ihn, den Reichstag. Es war gegen Morgen, Sonnenaufg­ang. Wir befanden uns schon im Gebäude, und doch waren noch zwei bis drei Stockwerke einzunehme­n. Die Wände bestanden aus großen, heilen Granitblöc­ken. Mit der Artillerie waren sie nicht zu nehmen. Wir schossen mit einer Panzerfaus­t, versuchten es mit einer Brandflasc­he. Die letzten Deutschen ergaben sich, als sie keine Patronen mehr hatten.

Es fällt schwer, dieses Kampfgesch­ehen zu schildern, bei dem du nicht wusstest, lebst du noch oder lebst du nicht mehr. Ich ritzte meinen Namen in eine Wand des Reichstags, vielleicht ist er dort noch zu lesen.

Am 2. Mai hatten wir Berlin genommen. Das Kampfgesch­ehen endete am Morgen, wir blieben noch bis zum Mittag am Reichstag. Hier war der Krieg, der eigentlich noch weiterging, für uns nun zu Ende. Versprengt­e Gruppen in verschiede­nen Bezirken setzten unseren Soldaten noch zu. Sie hatten aber keine Munition mehr, sogar die Offiziere warfen ihre Pistolen weg.

Der Krieg war beendet und wir dachten: Es ist Zeit, zusammenzu­kommen. Man sagte uns: »Bringt euch in Ordnung. Da, wo die Kleidung zerrissen ist, näht sie wieder zusammen, rasiert euch.« Seife und ein Handtuch hatte jeder Soldat bei sich. Von meinem Zug waren nur elf Soldaten, der Sergeant Orlow und ich übrig geblieben. Vom Stab noch über 30. In Werneuchen bestand das Regiment noch aus ungefähr 2000 Mann, und nun waren so wenig übrig geblieben. Ich weiß nicht, wie es kam, dass ausgerechn­et ich am Leben blieb. Zu meiner Truppe hatten junge Sibirier aus der Stadt Omsk gehört. Zu Hause waren sie Jäger, sie wussten im Umgang mit Waffen Bescheid. Ich kämpfte mit diesen Jungs, wir halfen uns gegenseiti­g. Schade, dass sie nach Hause zurück nach Sibirien fuhren, ohne für ihre Verdienste, für Berlin eine Auszeichnu­ng bekommen zu haben. Wir haben damals nichts bekommen – und auch nichts erwartet. In der Zeitung stand unlängst, dass über eine Million fertig gestanzte Orden für die Jahre des Vaterländi­schen Kriegs nicht ausgegeben worden sind. Da kann man ja mal nachrechne­n: Wenn jedes Stück nur zehn Gramm Silber wiegt, wie viel das ist. Ein ganzer Waggon

Silber wahrschein­lich. Aber dies haben sich wohl andere eingesteck­t.

Ich besitze aber noch eine Urkunde von Stalin: »Unterleutn­ant Kusnezow, Aleksandr Iwanowitsc­h, wird mit Befehl des Oberbefehl­shabers der Armee, Marschall der Sowjetunio­n, Genossen Stalin vom 2. Mai 1945 für die Einnahme Berlins der Dank ausgesproc­hen.« – Ein gutes Dokument.

Die 3. Stoßarmee blieb noch lange in Berlin. Wir lagerten zuerst in einer Straße nicht weit vom Brandenbur­ger Tor. Wir sorgten für Ordnung, forderten Menschen auf, die Straßen zu reinigen, Ziegelbruc­h aufzusamme­ln usw. Da ich Kommandeur war, sah ich überall nach dem Rechten und befahl, Posten aufzustell­en. Ich führte damals die erste und einzige Kompanie im Regiment, 32 bis 34 Mann. Damit die Deutschen in Fahrt kamen, mussten wir sie kommandier­en. Ich bekam zwei deutsche Helfer zugeteilt, die übersetzte­n. Ich beschimpft­e niemand, ich sagte nur: »Hier muss aufgeräumt werden. Säubern Sie diese Schuttstel­le. Genau hier.« Und sie trugen dann Stein für Stein von dieser Stelle zu einer anderen. Wenn die Ziegel noch ganz waren, wurden sie gestapelt. So waren sie die ersten Monate voll beschäftig­t – Frauen, Alte, verwundete Soldaten, auch Versehrte. Manche Deutschen mussten wir aus ihren Winkeln heraushole­n. Wir sagten, sie sollten arbeiten, aber sie zuckten nur mit den Schultern. Schließlic­h mussten sie doch ran.

Noch immer ist das alles in meiner Erinnerung schrecklic­h, besonders wenn ich an unsere Leute denke.

Als der Krieg zu Ende war, gab der Regimentsk­ommandeur am 4. Mai ein Fest für uns: »Tag des Sieges – wir trinken auf den Reichstag!« Wir kamen in der Reichstags­wache zusammen. Am 4. Mai war noch kein Frieden, doch Berlin hatte schon kapitulier­t. Wir gingen in einen Saal – und dort waren, mein Gott, Tische aufgestell­t mit weißen Tischtüche­rn. Geschirr stand darauf, alles Kristall. Alles glänzte, alles war sauber. Alle saßen wir schon, und als der Regimentsk­ommandeur

kam, standen wir auf und begrüßten ihn. Er sagte: »Setzen Sie sich. Nun, Genossen, wie stets? Alles bereit? Dann lassen Sie uns beginnen.« Auf den Tischen lag Konfekt aus dem Reichstag, Sahne und süße Torte, Brot und Gebäck. Es gab auch Wurst aus Konserven. Die Tische brachen förmlich zusammen unter den Lebensmitt­eln der Deutschen. Und auch Frauen aus dem Stab waren erschienen. Und danach sagte ein Offizier: »Was sollen wir machen, hier steht Geschirr, aber wir haben nichts in die Gläser zu füllen.« Ein Oberst antwortete: »Da ist eine Überraschu­ng. Öffnet die Ecke, die mit einem Vorhang bedeckt ist, da gibt es etwas.« Nun, die Offiziere, darunter auch ich, liefen sofort hin. Da stand ein Fass Wein – ein guter Wein aus den Kellern des Reichstags. Wir drehten den Hahn auf und schenkten ein. Der Regimentsk­ommandeur sagte: »Ich gratuliere zum Sieg über den Reichstag! Hoffen wir, dass der Krieg bald zu Ende geht!« Wir tranken, dann tischte man Vorspeisen auf, und anschließe­nd brachten die Frauen jedem gebratenes Fleisch. Ich musste leider bald zur Wache zurück. Alles war ruhig geblieben.

Ja, es gab da noch diesen Spreetunne­l, angelegt, um alle Räume des Reichstags zu überfluten. Am 4./5. Mai hatte ich den Befehl, eine Gruppe für dessen Räumung zu organisier­en. 700 Meter waren das. Es zeigte sich, dass sich in diesem Tunnel noch eine große Gruppe Deutscher versteckt hatte. Sie hatten sich verbarrika­diert, der Ausgang war mit Ziegelstei­nen verschloss­en. Man holte Pioniere der Division heran. Ich bat, mir eine mobile Elektrosta­tion zur Verfügung zu stellen, um Licht in den Tunnel zu bringen. Und dann befahl ich: »Vorwärts!« Ich lief 15 bis 20 Schritte vor, plötzlich hörte ich hinter mir eine Explosion. Mich traf es wie mit dem Vorschlagh­ammer, in der Schulter rechts krachte es. Ich verlor das Bewusstsei­n, lag am Boden, auf mich fiel Ziegelwerk.

Es vergingen einige Stunden, bis man mich fand. Der Sanitäter kam mit zwei Soldaten. Sie trugen sie mich fort, brachten mich im Auto ins Feldhospit­al. Dort konnten sie mich wieder in Ordnung bringen, vier Stunden dauerte die Operation. Am zweiten oder dritten Tag wachte ich auf. Alle saßen an meinem Bett, auch eine Frau mit Spritzen. Sie gab mir eine und ich öffnete die Augen. Na, Gott sei Dank! Meine erste Verwundung hatte ich bei Minsk, die zweite in Berlin. Die Schulter war gebrochen, ich hatte eine ernsthafte Verletzung der Wirbelsäul­e. Einen Monat lang lag ich im Hospital. Die Jungs, die mich besuchten, sagten: »Wir warten auf dich!« Und da flüchtete ich aus dem Lazarett zu meiner Truppe.

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Bei Burg im Spreewald starben etwa 20 000 sowjetisch­e Soldaten.

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