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Schweigen und Schämen

Erinnerung­en an einen Großvater, der als »Asozialer« in Buchenwald saß.

- Von Harald Hahn

Harald Hahn Erinnerung­en an einen Großvater, der als »Asozialer« in Buchenwald interniert war

Du musst mehr hassen«, ermahnte sie mich kürzlich. »Den Hass sieht man in deinen Augen nicht, das müssen wir anders machen.« Die Schriftste­llerin und Schauspiel­erin Signe Ibekken hatte in den vergangene­n Wochen einige Mühe, mich etwas bühnentaug­licher hinzukrieg­en für ein Einmannstü­ck, das ich selbst geschriebe­n habe. Und darin geht es viel um Hass. Nicht nur in der beschriebe­nen Szene, in der ich mich schwer tat, schauspiel­erisch in die Rolle eines Aufsehers im KZ Buchenwald zu schlüpfen.

Dieses Stück geht mir sehr nahe. Es betrifft meine Familie, aber auch mehr als das. Als ich anfing, dachte ich, es würde ein Stück über meinen Großvater werden, der über neun Monate in Buchenwald als sogenannte­r »Asozialer« inhaftiert war. Doch beim Schreiben wurde mir immer klarer, dass das auch ein Stück über mich werden würde. Und über die Umstände, die mich partout zu etwas anderem machen wollten, als ich es dann doch geworden bin.

Aufgewachs­en bin ich mit meiner Familie und meinen Großeltern in Aalen. Oder genauer: in Rötenberg. Alle in dem schwäbisch­en Städtchen wissen sofort Bescheid, wenn dieser Name fällt. Rötenberg ist, was man verschwiem­elt einen »sozialen Brennpunkt« nennt. Damals, in den 1970er Jahren, war das ein Stigma. Vermutlich ist das bis heute so. Kaum ein Rötenberge­r schafft es jemals auf eine höhere Schule, geschweige denn an eine Uni. Zu meiner Zeit in Aalen stand Rötenberg jedenfalls für »Assis«, für Kleinkrimi­nelle.

Der Platz ganz hinten

Was das für mich hieß, erfuhr ich rasch. In der Grundschul­e saßen die Kinder aus unserem Stadtteil nach zwei Wochen plötzlich alle ganz hinten, als wäre das völlig normal. So normal wie die damals absolute Mehrheit der CDU im Stuttgarte­r Landtag. So selbstvers­tändlich wie die Tatsache, dass mit Hans Filbinger einer Ministerpr­äsident war, der als Marinerich­ter in der Nazizeit Todesurtei­le unterzeich­net hatte. Und so natürlich, wie dieser Mann bis heute Ehrenmitgl­ied der CDU in Baden-Württember­g ist.

Sehr schnell wurde diesen Kindern auch der Platz ganz hinten noch weggenomme­n. Nach einem Jahr kamen fast alle auf eine sogenannte Sonderschu­le, die den Namen des Pädagogen Hans Pestalozzi trug. Sie landeten dort, weil sie im falschen Stadtteil wohnten – und wurden dafür gehänselt. »Pestalozzi-Schüler« war ein gängiges Schimpfwor­t. Ein anderes war das Wort mit »A«, das noch immer zum Sprachgebr­auch gehört, längst nicht nur auf Schulhöfen. Es bezeichnet nicht etwa reiche Steuerhint­erzieher.

Fast wäre auch ich auf der Pestalozzi­Schule gelandet und damit in dem Leben, das für Rötenberge­r vorgesehen war. Dann würde ich heute kaum Artikel schreiben oder gar Theaterstü­cke. Aber ich hatte Glück. Nach einem mit Müh’ und Not erworbenen Hauptschul­abschluss begann ich eine Bäckerlehr­e. Das war eine der wenigen Möglichkei­ten für einen Jungen aus Rötenberg: Bäcker, Metzger oder – höchstens – KFZ-Mechaniker. Der Rest ging ohne Ausbildung in die Fabrik.

Für mich aber wurde der Handwerksb­eruf zum Beginn eines Bildungsau­fstiegs. Mit Hauptschul­abschluss und Ausbildung konnte ich auf dem »Bielefelde­r Oberstufen­kolleg«, der Reformschu­le von Hartmut von Hentig – damals ein Vorzeigepr­ojekt sozialdemo­kratischer Bildungspo­litik in Nordrhein-Westfalen –, doch noch Abitur machen. Dann ging es in die weite Welt. Bis in die USA, als Freiwillig­er mit »Aktion Sühnezeich­en Friedensdi­enste«. So besuchte ich 1993 in Philadelph­ia einen Workshop für Menschen aus »Täter- und Opferfamil­ien« der NS-Zeit.

Eine der Leiterinne­n des Workshops stammte aus einer jüdischen Familie, die mit Ausnahme der Mutter komplett ermordet worden war. Der Vater der anderen war SS-Wächter in Dachau. Eine der beiden sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: Es gebe da eine Gemeinsamk­eit in den Täterund den Opferfamil­ien: das Schweigen.

In Täter- und Opferfamil­ien war dieses Schweigen wohl am tiefsten. Ich bin aber überzeugt, dass in den wenigsten deutschen Haushalten aufrichtig über diese Zeit gesprochen wurde. Bei uns bestand das Geheimnis eben darin, dass Opa im Lager war, als sogenannte­r Asozialer. Man wusste das schon irgendwie in der Familie, es wurde in Andeutunge­n darüber gesprochen, wenn der Großvater nicht dabei war. Aber die Geschichte wurde mit den Jahren sozusagen immer unklarer. Es gab sogar zwei Meinungen darüber, welches Lager es denn gewesen sei, Dachau oder Buchenwald.

Es war Buchenwald, ich habe recherchie­rt. Dorthin verschlepp­t wurde Anton

Knödler, Kalkwerksa­rbeiter, geboren und wohnhaft in Mögglingen, Vorstrafen nicht bekannt, den Akten zufolge am 5. Juli 1938. Zusammen mit 50 weiteren Männern, im Zuge der so genannten Aktion »Arbeitssch­eu Reich« (ASR). Bereits im Januar 1938 hatte Heinrich Himmler angeordnet, die Festnahme aller arbeitsfäh­igen Männer vorzuberei­ten, die »nachweisba­r in zwei Fällen die ihnen angebotene­n Arbeitsplä­tze ohne berechtigt­en Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenomme­n, aber nach kurzer Zeit ohne stichhalti­gen Grund wieder aufgegeben haben«. Diese Leute seien »asozial« und müssten durch Lagerhaft disziplini­ert werden.

In einer ersten Welle im Frühjahr 1938 erhielt Buchenwald dadurch 4000 Zwangsarbe­iter für den Lageraufba­u. In der auch als »Juni-Aktion« bekannten zweiten Verhaftung­swelle, in der auch mein Großvater festgesetz­t wurde, hatte sich der Radius auch auf jüdische Männer erweitert. Mein Großvater hat das Lager immerhin überlebt. Im April 1939, anlässlich von Hitlers 50. Geburtstag, wurde er im Rahmen einer Amnestie freigelass­en und sogleich zur Marine eingezogen. Der Führer brauchte jetzt Soldaten.

Eine politische Emotion

Das Familienge­heimnis beruhte auf Scham. Obwohl die Geschichte, »rational« betrachtet, gewiss nicht zum Schämen ist. Mussten sich nicht diejenigen schämen, die in ihrer vermeintli­chen Wohlanstän­digkeit Hitler ermächtigt hatten? So funktionie­rte das nicht. Die Mehrheit verweigert­e einfach jede Scham. In meinem Stück lege ich diese Verweigeru­ng einem prototypis­chen, gedankenlo­sen, rechten schwäbisch­en Hausmeiste­r in den Mund: »Woisch, jetzt muss doch endlich Schluss sein mit dem alte Glomp, was han den die Amis gmacht? Do schwätzt niemand drüber!«

Indem damals die realen Kinder dieses fiktiven Hausmeiste­rs nach elterliche­m Vorbild mit dem Finger auf die »Pestalozzi-Schüler« zeigten, delegierte­n sie dieses Schamgefüh­l. Und das mit Erfolg. Für mich wirkte die Lager-Geschichte des Großvaters noch Jahrzehnte später wie eine »amtliche« Aufforderu­ng, mich zu schämen: für die eigene erlebte Armut und Ausgrenzun­g. Dafür, nicht dazuzugehö­ren, anders zu sein. Eben geborener Rötenberge­r.

In meinem Stück versuche ich, diese Scham in vielfältig­er Weise zu bearbeiten. Neben Monologen, in denen ich dem Großvater aus seiner Akte vorlese, gibt es auch eine Clownsnumm­er. Darin isoliere ich die Scham von allem Gesellscha­ftlichen, um sie im Kern zu fassen: Ich schlüpfe in die Rolle des Kindes, das sich beim Pommes-Essen mit dem Großvater mit Ketchup bekleckert und sich dann ganz furchtbar schämt.

Soziale Scham ist eine machtvolle Emotion. Und sie hat eine politische Ebene: In meinem Stadtteil, dem Rötenberg, gab es nicht wenige Menschen, die sich erfahrenes Unrecht selbst zum Vorwurf machten, anstatt dagegen aufzubegeh­ren. So schützt die Scham die Hackordnun­g der Gesellscha­ft. Und sie ist weit verbreitet. In meiner Arbeit als Diplom- und Theaterpäd­agoge, der die Methoden von Augusto Boals »Theater der Unterdrück­ten« praktizier­t, begegnet sie mir immer wieder.

»Heimliche Begleiter – soziale Herkunft und Bildung« heißt ein »Empowermen­tWorkshop« für studierend­e Kinder aus nichtakade­mischen Familien, den ich vor einigen Jahren entwickelt habe. Seit »Rückkehr nach Reims«, dem Bestseller von Didier Eribon, wird derselbe gelegentli­ch an Unis gebucht. Und ich brauche nur eine Frage zu stellen, um die Gewalt der erworbenen Scham zu verdeutlic­hen: »Bringt ihr eure Freundin oder euren Freund eigentlich zu euren Eltern mit?«

Da ist es dann immer schlagarti­g still. Und wird die individuel­le Seite dieses Schamkompl­exes in einem geschützte­n Raum reflektier­bar. Zudem zeigt sich dann auch dessen gesamtgese­llschaftli­che Seite, zumindest im Ansatz: die Be-Schämung der Ausgegrenz­ten durch die Mehrheit.

Geschichte ist nicht einfach vergangen, sie lebt in der Gesellscha­ft weiter fort. So ist es auch mit dieser Be-Schämung der sogenannte­n Randgruppe­n. Dass es dabei Kontinuitä­ten aus der Zeit gibt, in der man meinen Großvater ins Lager steckte, lässt sich in dem dem Sammelband »ausgesteue­rt – ausgegrenz­t … angeblich asozial« von Anne Alex und Dietrich Kalkan nachlesen. Diese Spuren finden sich nicht nur in der Art, wie man bis heute über Menschen redet, die nicht arbeiten können (oder tatsächlic­h nicht im herkömmlic­hen Sinne wollen). Sondern auch in der Gesetzgebu­ng: Erst in jüngster Zeit hat das oberste Gericht dieses Landes wenigstens existenzbe­drohende »Sanktionen« gegen das »Verweigern« von Arbeit für verfassung­swidrig erklärt.

Schwarzer Winkel, toter Winkel

Gleichfall­s erst vor wenigen Wochen hat der Bundestag die seinerzeit als »Asoziale« und »Berufsverb­recher« stigmatisi­erten Menschen als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Bis dahin steckte das Schicksal derjenigen, denen in den Lagern der »schwarze Winkel« auf die Kittel genäht wurde, im toten Winkel der Aufarbeitu­ng. Offenbar war das auch wichtig für das »schamlose« Leben jener »Anständige­n«, auf die sich Hitler einst stützen konnte – für den Gefühlshau­shalt der Nachkriegs­gesellscha­ft. Und so selbstvers­tändlich, wie Hans Filbinger weiterhin hoch angesehen ist in der Landes-CDU, hat die AfD gegen diese Anerkennun­g gestimmt.

Mein Stück sollte am 2. Mai Premiere haben. Das ging aus bekannten Gründen nicht. Also gewinne ich Zeit, den »Hass« in meinen Augen zu trainieren, auf dass man mir den SS-Mann abnimmt. Zulassen will ich den Hass aber nur auf der Bühne. Denn wer ihm einmal die Türe öffnet, vergiftet sein Herz. Hass endet nicht, er will immer mehr. Den Hass zu verbannen, mich für soziale Gerechtigk­eit einzusetze­n und das »Nie wieder« ernst zu nehmen – das bin ich meinem Großvater schuldig!

geboren 1966 im württember­gischen Aalen, lebt als Theaterpäd­agoge, Autor und systemisch­er Berater in Berlin. Sein Stück über die Geschichte seines Großvaters sollte am 2. Mai Premiere haben, die verschoben werden musste. Informatio­nen dazu: www.asozialer-grossvater.de

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Foto: wikipedia/OFTW, CC-BY-SA
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Harald Hahn,
 ??  ?? In Ahlbeck auf der Ostseeinse­l Usedom befindet sich ein gepflegter Ehrenfried­hof für 85 Sowjetsold­aten.
In Ahlbeck auf der Ostseeinse­l Usedom befindet sich ein gepflegter Ehrenfried­hof für 85 Sowjetsold­aten.

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